2022: Darmstadts viertes Jahr nach dem Radentscheid

Titelbild Jahresrückblick 2022

Ein Darmstädter Radverkehrs-Jahresrückblick – Teil 4

IN KÜRZE

2022 war das vierte Jahr nach den Verhandlungen des Radentscheids Darmstadt mit der Stadt Darmstadt. Neben einer städtischen Radstrategie und dem sogenannten 4×4-Sonderprogramm Investition Radverkehr (16 Mio. € in 4 Jahren) hat das Stadtparlament einen dazugehörigen Maßnahmenkatalog mit 34 Maßnahmen beschlossen, die das Radverkehrsnetz der Stadt deutlich verbessern sollen. Dieser jährlich erscheinende Jahresrückblick, bietet eine Übersicht über den Fortschritt dieser Maßnahmen. Die Maßnahmen werden sortiert, bewertet und tabellarisch und grafisch dargestellt. 2022 ist in Darmstadt für den Radverkehr weniger umgesetzt worden als in den Jahren zuvor. Ursprünglich war geplant, die beschlossenen Maßnahmen in den vergangenen vier Jahren umzusetzen. Dies ist nicht gelungen, das 4×4-Sonderprogramm soll jedoch fortgeführt werden.

Dies ist der vierte Bericht zu den in Darmstadt umgesetzten Radverkehrsmaßnahmen nach dem Radentscheid. Bei diesem Jahresrückblick werden folgende Planungsaktivitäten erfasst:

  1. Alle in 2022 umgesetzten Radverkehrs-Maßnahmen: Basis dieser Analyse sind die Quartalsberichte der Stadt Darmstadt, die die umgesetzten Maßnahmen pro Quartal zusammenfassen. Einige wirklich kleine Maßnahmen (Verkehrszeichen,…) daraus werden hier nicht gewertet.
  2. Leistungsstand der 34 Maßnahmen, die bei den Verhandlungen im Rahmen des 4×4-Sonderprogramms Radverkehr von den Stadtverordneten festgelegt wurden.
  3. Parallel dazu werden die Maßnahmen in der Analyse des Radverkehrsnetzes von 2019 und in der dazugehörigen Radverkehrsnetzkarte aktualisiert. Somit kann abgelesen werden, wie sich das Radverkehrsnetz sicherer Radführungen an Hauptstraßen sukzessive wächst.

Wer mehr wissen will zur Geschichte des Darmstädter Radentscheids, bitte hier entlang zu

1. Alle in 2022 umgesetzten Radverkehrs-Maßnahmen

Den großen Maßnahmen wird jeweils eine Qualitätsstufe zugeordnet:

Qualitätsstufen

  • Radentscheidsiegel: Streckenelemente müssen geschützte Radwege aufweisen mit mindestens 2,3 m Breite. Kreuzungen müssen als Schutzkreuzungen ausgeführt werden, angehobene Kreuzungsbereiche an Einmündungen, Maßnahmen an Nebenstraßen, die das Radfahren erleichtern.
  • Radstrategie: restliche Maßnahmen gemäß Radstrategie
  • ERA: Maßnahmen nach dem Regelwerk Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA; diese gehen oft über die StVO hinaus)
  • Straßenverkehrsordnung (StVO): Restliche Maßnahmen

Kleinmaßnahmen und andere Maßnahmen werden im Rahmen der Qualitätsstufen nicht bewertet. Es wird davon ausgegangen, dass alle Kleinmaßnahmen wichtig und gut sind und dem Qualitätsstandard des Radentscheids entsprechen. (bspw. Abstellanlagen, Poller,…)

Download Alle umgesetzten Maßnahmen 2022.pdf

Alle umgesetzten Radverkehrsmaßnahmen 2022 - tabellarisch

Alle Radverkehrsmaßnahmen 2022 nach Kategorie und Qualität

Alle Radverkehrsmaßnahmen 2022 grafisch

Der Jahresvergleich zwischen 2019 bis 2022 stellt sich wie folgt dar:

Alle Radverkehrsmaßnahmen 2022 in 4 Jahren

Die wichtigsten Analyseergebnisse für 2022

  • Die Anzahl der umgesetzten Radverkehrsmaßnahmen an Hauptstraßen, Nebenstraßen, Knotenpunkten und Kleinmaßnahmen hat sich weiterhin im Vergleich zu den Vorjahren fast linear verringert. Im Vergleich zu 2021 ist sie um fast 60% gesunken, im Vergleich zu 2020 um 73 % und im Vergleich zu 2019 um 81 %! Es sind in erster Linie die Kleinmaßnahmen, die diesen Verlauf beeinflussen, aber fast alle Maßnahmen haben sich von Jahr zu Jahr verringert, insbesondere Maßnahmen an den Kreuzungen.
  • Das Radentscheidsiegel kann für 2022 zweimal, einmal für ein kleines Nebenstraßenprojekt und einmal für ein Projekt an einer Hauptstraße vergeben werden.
  • Ein großes Leuchtturmprojekt mit wegweisendem Charakter analog zu der Protected Bikelane in der mittleren Rheinstraße oder an der Landgraf-Georg-Straße ist 2022 nur die Verstetigung des Verkehrsversuchs am Steubenplatz.
  • An Hauptstraßen konnten rund 815 m Radweg in mindestens der Qualität der ERA 2010 hergestellt werden. Dazu gehört der Radfahrstreifen an der nördlichen Heidelberger Landstr. sowie die Markierung eines Radfahrstreifens in der Bismarckstr. (zum Vergleich: Radentscheid Ziel 2: 5 km Radwege an Hauptstraßen).
  • An Nebenstraßen wurden 500 m für den Radverkehr umgesetzt, so wenig wie noch nie in den vier Jahren des 4×4-Sonderprogramms. Dazu zählt die grundhafte Sanierung von bestehenden Wegen und auf einer Länge von 100 m die Freigabe einer Einbahnstraße. (zum Vergleich: Radentscheid Ziel 4: 5 km attraktive Nebenstraßen)
  • Von Ziel 3 des Radentscheids – Sichere Kreuzungen nach niederländischen Vorbild wurde auch 2022 wieder keine einzige Kreuzung umgesetzt. Bei drei Maßnahmen an einer Kreuzung sorgten 2022 Markierungsarbeiten für mehr Sicherheit für Radfahrende.
  • Die Maßnahmen in Bezug auf Radentscheid Ziel 6 (Bordsteinabsenkungen) und 7 (Anhebungen von Einmündungsbereichen: Teilaufpflasterungen) wurde bislang weiterhin gar nicht umgesetzt. Und das, obwohl dies an nichtsignalisierten Kreuzungen, die effizienteste Maßnahme für die Sicherheit und den Komfort von Fußgehenden und Radfahrenden ist.
  • Im Bereich von Kleinmaßnahmen wurden 9 Maßnahmen umgesetzt. (Abstellanlagen, Poller,…) Aber selbst diese Zahl beträgt nur 1/7 der Maßnahmen von 2019.
  • In 2021 haben die Stadtverordneten beschlossen, die vier (von ursprünglich fünf geplanten) 2020 eingerichteten Verkehrsversuche zu verstetigen. Der Beschluss ist ein großer Erfolg, aber umgesetzt wurde 2022 nur die Situation am Steubenplatz und am Roßdörfer Platz. Die Verkehrsversuche Neckarstraße/Heidelberger Straße und an der Zeughausstraße sind auf 2023 vertragt worden.

2.Leistungsstand der 34 Maßnahmen des 4×4 – Sonderinvestitionsprogramms Radmobilität

Um einen Überblick zu haben über den Stand der Umsetzung aller 34 Maßnahmen speziell aus dem 4×4 Sonderprogramm Investition Radverkehrsförderung wurde folgende Tabelle erstellt. Diese wird jedes Jahr aktualisiert. Die blauen Balken in der mittigen Spalte zeigen den Fortschritt der Projekte an. Im Idealfall wären spätestens 2023 alle Fortschrittsbalken blau. Die blauen Markierungen in der rechten Spalte zeigen die Jahreszahlen. Je dunkelblauer die Markierung desto aktueller ist die geplante Umsetzung. Gelbe Felder deuten auf verzögerte Maßnahmen:

Download 34 Maßnahmen 4×4 Sonderprogramm 2022.pdf

Umsetzungsstand 34 Maßnahmen 4x4-Programm - tabellarisch

2022 konnten nur wenige Maßnahmen dieser vom Stadtparlament beschlossenen Liste umgesetzt werden. In den letzten 4 Jahren wurden bislang insgesamt 24 Maßnahmen von 34 angefangen oder abgeschlossen. Planungsphasen wurden dabei berücksichtigt. Bei 19 Maßnahmen wurde noch nicht mit der Planung oder Umsetzung begonnen. Der Leistungsstand betrug in 2021 27 % und beträgt nun 44 %.

Leistungsstand der Maßnahmen in Radentscheid-Qualität

Der Radentscheid hatte für die Infrastrukturmaßnahmen ursprünglich bestimmte Quantitäten in einer guten Qualität pro Jahr gefordert. So sollten 5 km sichere Radinfrastrukturmaßnahmen je an Haupt- und Nebenstraßen und 3 sichere Kreuzungen pro Jahr umgesetzt werden. Folgende Grafik stellt den Leistungsstand in Radentscheid-Qualität in den vier Jahren zwischen 2019-2022 dar:

Leistungsstand Umsetzung der 34 Maßnahmen in 4 Jahren

An Hauptstraßen sind in der 4 Jahresbetrachtung nur ca. 5,6 %, an Nebenstraßen ca. 33,5 % der ursprünglich geforderten Menge und an Kreuzungen keine einzige Maßnahme in Radentscheidqualität umgesetzt worden.

3.Qualität der Radwege an Hauptstraßen

An den Hauptstraßen konnten Radverkehrsanlagen etwas sicherer gemacht werden. Der Anteil der Hauptstraßen mit sicheren Radverkehrsanlagen ist 2022 auf 11,2 % gestiegen. Im Vergleich zu 2021 konnte dieser Anteil um 0,7 % erhöht werden. Diese Daten konnten durch die Anpassung der Rohdaten des Qualitätschecks der Radverkehrsanlagen 2019 ermittelt werden. Die relevanten umgesetzten Maßnahmen werden jedes Jahr in dieser Analyse ergänzt.

Qualtiät des Radverkerhsnetzes an Hauptstraßen

Zum Vergleich 2021:

Qualitiät des Radverkerhsnetzes an Hauptstraßen 2021

Fazit

Die Anzahl der umgesetzten Maßnahmen hat in 2022 in etwa im gleichen Maße abgenommen wie zwischen 2020 und 2021. 2022 konnten nur wenige Leuchtturmprojekte umgesetzt werden.

Doch es gibt viel Grund zur Hoffnung, dass das Tempo in den kommenden Monaten zunimmt. Für 2023 hat die Stadt Darmstadt auch für die Kreuzung Rhein-/Neckarstraße. Außerdem werden weitere Verkehrsversuche von 2020 verstetigt und hoffentlich startet nun 2023 das Projekt SQUADA, d.h. die Umsetzung einer rad- und fußverkehrsfreundlichen Kreuzung der Landgraf-Georg-Straße Ecke Teichhausstraße.

Das 4×4-Sonderprogramm ist im Grunde abgelaufen. Die Stadt stellt jedoch eine Fortführung des Programms in Aussicht. Ebenso sollen die noch offenen Maßnahmen der Liste der 34 Maßnahmen abgeschlossen werden. Weitere sollen folgen.

Jedoch muss man festhalten, dass mit einer, in den letzten vier Jahren gelebten  Geschwindigkeit der Umsetzung der 34 Maßnahmen des 4×4-Programms, es ca. weitere 5 Jahre dauern wird, das Programm fertigzustellen. In Bezug auf die Qualität der Radverkehrsanlagen an Hauptstraßen, hätte man in 19 Jahren an 50% aller Hauptstraßen sichere Radwege. Das ist kein gutes Ergebnis für eine Stadt, die eine Fahrradstadt sein will.

Das ist kein gutes Ergebnis für eine Stadt, die eine Fahrradstadt sein will.

Budget

Laut einer Antwort auf eine kleine Anfrage des Stadtverordneten Lehmann (SPD) 2022 sind von 2019-2021 3,8 Mio. € auf das Konto des 4×4-Programms gebucht worden. Das entspricht 24 % des Gesamtbudgets. In den Jahren 2022-2023 (und teilweise darüber hinaus) sollten laut der damaligen Antwort weitere 8,9 Mio. € investiert werden. Über den aktuellen Stand der Ausgaben bis 2022 liegen aktuell keine Informationen vor.  

In den drei Jahren zwischen 2019 und 2021 investierte die Stadt Darmstadt in den übrigen Straßenverkehr ca. 75 Mio. €. Im Vergleich zu den Investitionen in den Radverkehr ein beunruhigendes Ungleichgewicht. Umso unverständlicher wird es, wenn man sich daran erinnert, dass die gesamte Gesellschaft jedes Auto mit durchschnittlich 5.000 € pro Jahr subventioniert, jeder mit dem Rad gefahrener Kilometer sich jedoch mit 30 Cent Gewinn auszahlt.

Jede gute Baumaßnahme für den Radverkehr zahlt sich volkwirtschaftlich mehrfach aus. So entspricht der volkswirtschaftliche Nutzen in den Niederlanden (alle externalisierten Kosten), der durch einen gesteigerten Radverkehrsanteil entsteht, dem sechzigfachen (!) der Ausgaben für Infrastrukturmaßnahmen für den Radverkehr.[1] Radwegebau ist also eine optimale volkswirtschaftliche Investition.

Die Stadt Darmstadt hat eine gute Richtung eingeschlagen. Es werden einige gute Infrastrukturprojekte umgesetzt. Viele Projekte sind in der Planungsphase und es ist abzusehen, dass künftig einige Projekte in kurzer Zeit umgesetzt werden. Leider muss man festhalten, dass sich die Stadt mit der Umsetzung von sicheren Kreuzungen für den Fuß- und Radverkehr immer noch extrem schwer tut. Außer dem Verkehrsversuch SQUADA gibt es kein einziges Projekt, was Kreuzungen so sicher macht, dass sie auch für Kinder, Senioren und Anfänger funktionieren. Wer möchte, dass mehr Menschen Rad fahren, braucht ein durchgängiges sicheres Radwegenetz. Dies wird es nur geben, wenn neben den Streckenabschnitten auch die Kreuzungen an die Bedürfnisse von Radfahrenden angepasst werden. Die Musterlösungen dafür liegen in der Schublade.

Um das selbst gesteckte Ziel der Stadt Darmstadt, „eine fahrradfreundliche Stadt“ zu werden „mit einer einladenden und sicheren Infrastruktur für alle Menschen, die Radfahren wollen.“[2] tatsächlich zeitnah zu erreichen, muss dringend Gas gegeben werden bei der Umsetzung. Budget gibt es genug, Ausreden keine mehr.

Die Stadt muss sich an ihre Beschlüsse halten und 2023 endlich liefern, liefern, liefern.


[1] CROW 2016

[2]Radstrategie Stadt Darmstadt

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