Die Qual der Wahl der Radverkehrsanlage

Titel

Brauchen wir für unterschiedliche Nutzer unterschiedliche Radverkehrsanlagen?

Die Qualitätsstandards und Musterlösung Radnetz Hessen der Arbeitsgemeinschaft Nahmobilität Hessen nimmt in der neuen 2. Auflage, ähnlich dem niederländischen Regelwerk, dem Design Manual for Bicycle Traffic – kurz: CROW – eine Bewertung des Einsatzes von Radverkehrsanlagen nach zulässiger Höchstgeschwindigkeit und Verkehrsstärke auf. Grundlage dieser Kategorisierung ist neben der Unfallprävention auch die Berücksichtigung der subjektiven Sicherheit. Es ist mehr als löblich, dass dieses Thema wieder in den Regelwerken verankert wird. Fast schon vergessen sind die Entwurfsgrundlagen der Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA 2010), die in Tabelle 4 eindeutige Aussagen zur subjektiven Sicherheit machen:

subjektive VerkehrssicherheitVermeidung von Situationen, in denen sich die Nutzer gefährdet oder überfordert fühlen
 Wahl von Führungsformen mit geringer Abhängigkeit vom Verhalten anderer
Tabelle 4 – ERA 2010, FGSV (Ausschnitt)

Im Unterschied zur CROW fehlt der Methode der AGNH jedoch eine Einteilung nach Radverkehrsanteil. Dafür gibt es jedoch zusätzlich eine Kategorisierung nach Nutzergruppen und deren Kompetenzen. So wird nach folgenden Nutzergruppen eingeteilt:

  1. Schüler (rotes Netz)
  2. „weniger geübte“ Radfahrende (grünes Netz)
  3. „geübte“ Radfahrende (blaues Netz)
Nutzergruppen nach AGNH
Radnetze nach Nutzergruppen nach AGNH

Die Absicht hinter diesem Vorgehen ist nach AGNH, wieder mehr auf die Bedürfnisse von unerfahrenen Radfahrenden einzugehen, um somit den Umstieg aufs Fahrrad zu fördern.

„Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte […] zeigen jedoch, dass die, auf Basis [der ERA] umgesetzte Infrastruktur insbesondere die Bedürfnisse von unerfahrenen Personen nicht ausreichend berücksichtigt. Damit gelingt es nicht, die für einen Wechsel des Verkehrsmittels notwendige Attraktivität des Radverkehrs herzustellen. Deshalb soll für den Alltagsverkehr in Hessen – auf dem der Fokus dieser Qualitätsstandards und Musterlösungen liegt – zukünftig nach den Nutzenden differenziert werden, da es sich dabei nicht um eine homogene Gruppe handelt.“*

Qualitätsstandards und Musterlösung Radnetz Hessen AGNH

Für die Verkehrswende ist dieser „neue“, weniger verkehrstechnische Fokus auf der subjektiven Sicherheit und auf anderen Bedürfnisse von Menschen auf Fahrrädern von zentraler Bedeutung. Die Frage ist jedoch, ob die durch die AGNH eingeführte Kategorisierung nach Nutzergruppen diesem Ziel entgegenkommt. Was bedeutet das für die Planungspraxis, was bedeutet es für die Qualität zukünftig gebauter Radverkehrsanlagen?

Kategorisierung Nutzergruppen AGNH
Kategorisierung Nutzergruppen AGNH – Anwendung für die Streckenelemente

Ausgrenzung der Radverkehrs-Hauptzielgruppe

Zur „mohnheimschen Zweiteilung“ der Gruppe der Radfahrenden in „Geübte“ und „Ungeübte“ [i] gesellt die AGNH nun noch die Zielgruppe der Schüler.

Ja, die Gruppe der Fahrradnutzer*innen ist sehr heterogen. Radfahrende haben unterschiedlichen Kompetenzen und Bedürfnissen nach Bequemlichkeit, Komfort und Sicherheit. Eine Reduzierung dieser Tatsache auf zwei oder drei Gruppen ist ein Versuch dem gerecht zu werden. Zum einen ist eine solche Kategorisierung für die Praxis jedoch wenig hilfreich, zum anderen kann diese Einteilung für eine Förderung des Radverkehrs kontraproduktiv sein. Denn das Bild von den „Ungeübten“ und „Geübten“ bildet nicht die Realität unter den Radfahrtypen ab. Die größte Gruppe von Radfahrenden wird dabei völlig vergessen.

Denn das Bild von den „Ungeübten“ und „Geübten“ bildet nicht die Realität unter den Radfahrtypen ab. Die größte Gruppe von Radfahrenden wird dabei völlig vergessen.

Die meisten Radfahrenden bevorzugen eine bauliche Trennung vom Autoverkehr (siehe Grafik). Dennoch wäre es nicht förderlich, dieser Gruppe das Bedürfnis nach zügigem und möglichst ungehindertem Fahren abzusprechen.

Zahlen separate Infrastruktur

Vor allem die Ängste und Bedürfnisse von Verkehrsteilnehmern, die noch nicht Rad fahren werden, es aber tun würden, muss beim Bau von Radverkehrsanlagen berücksichtigt werden. Für diese größte Gruppe (gemäß der Studien zu den Four Types Of Cyclists von Dill und Geller, Portland sind das die ca. 60% Interessierten aber Besorgten, s. Grafik) kommt allenfalls die rote AGNH-Kategorie infrage.

Grundlage des Festhaltens an Mischverkehrskonzepten (bei Tempo ≥50) ist wohl ein zäher Glaube daran, dass sich Radfahrende schon an das Fahren gemeinsam mit schnellen und schweren Fahrzeugen gewöhnen, wenn sie es häufiger praktizieren. Die Geschichte des Radverkehrs hat jedoch gezeigt, dass fahrbahnorientierte Radverkehrsanlagen nicht zu einem steigenden Radverkehrsanteil führen. Dieses Denken, exkludiert die Mehrheit von Radfahrenden oder Radfahrenden in spe. Eine inklusive Radverkehrsanlage berücksichtigt vorwiegend die Schwächeren, die subjektive Sicherheit und ist breit genug, um Konflikte zwischen den unterschiedlichen Nutzern zu minimieren.

FourTypesOfCyclists

Problematik der Definition von Nutzergruppen

Die Kategorisierung nach AGNH setzt voraus, dass es möglich sei, für Streckenabschnitte „relevante Nutzergruppen“ zu eruieren, um eine Kategorie zu definieren. Für diese Definition müssten mitunter aufwändige Analysen durchgeführt werden. Wie genau das gehen soll, darauf gibt die AGNH keine Antwort.

Durch die Festlegung auf eine Nutzergruppe werden im Vorfeld jedoch Nutzergruppen ausgeschlossen. Anfänger beispielsweise, die Zielgruppe mit der höchsten Priorität haben die Bedürfnisse, die die rote Nutzergruppe „Schüler“ vorgibt, zählen aber nicht dazu.

Infrastrukturplanung fürs Rad sollte zudem davon ausgehen, dass die Nutzerzahlen der Radverkehrsanlage steigen und auch die Nutzer heterogener werden.

Praxistauglichkeit

Die Anwendbarkeit der Kategorisierung in der Praxis ist zudem fraglich. Das rote Netz soll sich laut AGNH an dem Schüler Radroutenplaner Hessen orientieren, das vorwiegend aus Strecken im teilweise schlecht ausgebauten Nebennetz ausweist. Zulaufrouten bündeln sich nur im Umfeld von Schulen. Schulwege starten aber potentiell an jedem Haus – und das mitunter an Hauptstraßen – und enden an jeder schulischen Einrichtung. Für die Praxis käme daher (auch außerorts) neben der roten Kategorie keine weitere Kategorie zum Einsatz.

Priorisierung der Kategorien

Eine Kategorisierung von Radverkehrsanlagen nach Nutzern macht nur dann ein wenig Sinn, wenn eine Priorisierung der Kategorien erfolgt. Die dritte blaue Gruppe nennt die AGNH Radzusatznetz. Dem Namen nach zu urteilen sollen die Routen aus diesem Netz ein Hauptnetz der rot/grünen Kategorie lediglich ergänzen. Die AGNH weist auf eine Rangfolge hin, hebt die Wichtigkeit aber bei weitem nicht deutlich genug hervor:

„Als relevante Nutzergruppe in einem Netzabschnitt gilt jeweils die Nutzergruppe mit den höheren Anforderungen (z.B. bei einer Überlagerung von „Schulnetz“ und „Radnetz“ hat das „Schulnetz“ die höheren Anforderungen)“

Qualitätsstandards und Musterlösung Radnetz Hessen AGNH

Vergleich zur niederländischen Regelwerken

Grundlage des niederländischen Straßenbaus ist die Vision der Nachhaltigen Sicherheit (Sustainable Road Safety – 3rd Edition). Dieses Grundverständnis hebt hervor, dass Verkehrsteilnehmer Menschen sind, die Fehler machen und Regeln missachten. Die Nachhaltige Sicherheit verlangt, dass u.a. die Gestaltung der Infrastruktur mithilft, sich soweit es geht, unabhängig von Fehlern oder Regelverstößen Einzelner zu machen. Dieses Ziel wird mithilfe von drei Prinzipien erreicht:

  • Funktionalität: Jede Straße hat nur eine Funktion. Funktionsüberlagerungen verbieten sich bei großer Heterogenität der mobilen Personen (s.2.)
  • Biomechanische Faktoren: Eine großer Heterogenität der Verkehrsteilnehmer in Geschwindigkeit, Masse und Schutz bei Nutzung der gleichen Fläche verbietet sich.
  • Psychologische Faktoren: Infrastruktur darf die Nutzer kognitiv und psychisch nicht überfordern.

Auf Grundlage der Nachhaltigen Sicherheit kommt daher ab inkl. Tempo 50 nach der CROW (Table 5-2) eine Mischverkehrslösung gar nicht in Betracht. Lediglich bei geringem Radverkehrsaufkommen ist eine Lösung mit Radfahrstreifen vorgesehen. Gemäß CROW ist die Verkehrsstärke bei Geschwindigkeiten ab 50km/h nicht mehr relevant. Dabei steht der große Unterschied der Unfallschwere und -häufigkeit zwischen Tempo 30 und Tempo 50 im Vordergrund. Bei der Methode der AGNH ist ein kategorisches Ausschließen von Mischverkehr bei Tempo 50 nicht vorgesehen. Zudem wird die Tendenz zur geschützten Führung durch die Fußnoten teilweise noch mehr aufgeweicht.

Das Ausblenden des (prognostizierten) Radverkehrsanteils kann in der gebauten Praxis zur untauglichen und unterdimensionierten Radverkehrsanlagen führen.

Allein die vereinfachende Unterscheidung der AGNH zwischen Alltagsverkehr und Freizeitverkehr ist grundlegend zu hinterfragen. So besteht die Gefahr, dass der Eindruck erweckt wird, Alltagsradverkehr darf nicht attraktiv sein. Soll das Umsteigen aufs Rad erleichtert werden, ist gerade beim Alltagsverkehr der Fokus auf die Attraktivität zu legen. Ein gutes Radverkehrsnetz bedient folgende (CROW-)Kriterien gleichermaßen:

  • Durchgängigkeit
  • Direktheit
  • Sicherheit
  • Komfort
  • Attraktivität

Investitionen für zu kleine Nutzergruppen

Eine Radverkehrsanlage nach AGNH-Kategorie Blau „geübte“ Radfahrende wird nur von einer kleinen Zielgruppe genutzt. Nach Dill/Geller sind das ca. 6% der Verkehrsteilnehmer (s Grafik). Eine Investition in eine Radverkehrsanlage der Kategorie Blau ist volkswirtschaftlich daher fragwürdig. Für die Gestaltung von Radwegen gelten dieselben Regeln wie im Produktdesign. Produkte die nicht „gekauft“ werden, werden zu Ladenhütern und gefährden das Geschäft. In diesem Fall das volkwirtschaftliche.

Für die Gestaltung von Radwegen gelten dieselben Regeln wie im Produktdesign. Produkte die nicht „gekauft“ werden, werden zu Ladenhütern und gefährden das Geschäft.

Die Kategorisierung birgt die Gefahr, dass Kommunen aufgrund Kosten- und  Flächenproblematik die blaue Kategorie mit Mischverkehr anbieten, und als vollwertige regelkonforme Radverkehrslösung verkaufen, obwohl diese Anlage nur einen Teil der Zielgruppe bedient.

Die Kategorisierung unterstützt die Kommunen nicht dabei, Kfz-Flächen für das Fahrradumzuwidmen.

Ausgebremste Radfahrende

Ein anderer Hintergrund für diese Kategorisierung ist vielleicht die Angst von „schnellen, angstfreien“ Radfahrenden, durch „langsame“ ausgebremst zu werden. Es geht unterm Strich jedoch darum, den Radverkehrsanteil zu erhöhen. Dazu ist es notwendig, die Gruppe derjenigen anzusprechen, die noch nicht Rad fahren (60% nach Dill/Geller), es aber tun würden, wenn es mehr geschützte Infrastruktur gäbe. Ein Qualitätsradnetz, dass die Bedürfnisse der größtmöglichen Zielgruppe bedient, würde umgekehrt niemals diejenigen vom Radfahren abhalten, die es heute sowieso schon tun. Ein gut gemachtes Radnetz auf geschützten Strecken und Kreuzungen sorgt für flüssigeren Radverkehr, insbesondere weil es unabhängig macht vom Verkehrsfluss des Kfz-Verkehrs.

Ein gut gemachtes Radnetz auf geschützten Strecken und Kreuzungen sorgt für flüssigeren Radverkehr, insbesondere weil es unabhängig macht vom Verkehrsfluss des Kfz-Verkehrs.

Fazit

Es ist sehr wichtig und gut, dass das Thema Bedürfnisse von Radfahrenden nach Schutz und Komfort in den Regelwerken seinen Platz findet. Die AGNH macht einen Anfang. Es ist jedoch zu bezweifeln, dass die Kategorisierung nach Nutzergruppen den Alltagsradverkehr innerhalb des Ziels Verkehrswende weiterbringt. Wahrscheinlich ist sie sogar kontraproduktiv.

Das Unterteilen der Alltagsradler in die von der AGNH vorgesehenen Nutzergruppen stellt keinen Mehrwert für die Radverkehrsplanung dar, ist um viel zu viele Ecken gedacht und ist daher nicht notwendig. Ebenso wenig bildet sie einen realistischen Querschnitt durch die Gruppe der Radfahrenden ab. Eine gute Radinfrastruktur wird zunächst für die schwächsten Radverkehrsteilnehmer gedacht und wird genutzt von der größtmöglichen Nutzergruppe. Dass Radwege für alle Alltags-Nutzergruppen möglich sind, zeigen die Niederländer seit Jahrzehnten.

Eine gute Radinfrastruktur wird zunächst für die schwächste Radverkehrsteilnehmer gedacht und wird genutzt von der größtmöglichen Nutzergruppe.


[i] Mohnheim – Zur aktuellen Debatte in der Fahrradszene und speziell beim ADFC über die Entwicklung von Radverkehrsanlagen – Artikel auf urbanophil, 02-2017  http://www.urbanophil.net/urbane-mobilitat/zur-aktuellen-debatte-in-der-fahrradszene-und-speziell-beim-adfc-ueber-die-entwicklung-von-radverkehrsanlagen/

4 Kommentare

  1. Teil 1
    Liebe Freunde,
    ich finde an der Kritik oben Vieles richtig. Vor allem die Kategorisierung „Ungeübte“ vs „Geübte“ ist grundfalsch, ein alter ideologischer Hut. Es geht nicht um ungeübt versus geübt, sondern um Sicherheitsbewusstsein auf der einen und um Risikotoleranz bis hin zu Freude am Risiko auf der anderen Seite.
    Risikotoleranz, noch mehr gilt das für Freude am Risiko, wird nicht durch Übung erworben, sondern ist im Wesentlichen durch Sozialisation, Hormonausstattung und Lebensumstände festgelegt. Übung soll nicht zu erhöhtem Risiko führen. Im Gegenteil, von Übung wird erwartet, das Risiko zu minimieren.
    Ein Übergang bzw. eine Entwicklung von Sicherheitsbewussten (sog. „Ungeübten“) zu Risikofreudigen (sog. „Geübten“) findet im Allgemeinen nicht statt, schon gar nicht, wie die Wortwahl „ungeübt/geübt“ insinuiert, quasi automatisch.

    Dieses sprachliche Narrativ führt im Wesentlichen dazu, dass risikobereite Männer als (durch „Übung“ von allen zu erreichende) anzustrebende positive Norm im Radverkehr gelten (‚Übung macht den Meister‘). Radinfrastruktur wird mittels dieses Narrativs nach ihren Bedürfnissen gestaltet. Dies ist zweifellos ein außerordentliches Privileg, das leider oder absichtlich mit den vorliegenden „Qualitätsstandards und Musterlösung Hessen“ von der AGFH verteidigt wird. Die Kehrseite dieses Privilegs für die Wenigen ist bekannt: Der Großteil der Bevölkerung (auch längst nicht alle Männer sind bereit, im Verkehr Leib und Leben zu riskieren) wird vom Radverkehr abgehalten.

    Hiermit jedoch schüttet ihr das Kind mit dem Bade aus:
    „Problematik der Definition von Nutzergruppen
    Die Kategorisierung nach AGNH setzt voraus, dass es möglich sei, für Streckenabschnitte „relevante Nutzergruppen“ zu eruieren“ …
    „Zum einen ist eine solche Kategorisierung für die Praxis jedoch wenig hilfreich, zum anderen kann diese Einteilung für eine Förderung des Radverkehrs kontraproduktiv sein.“

    4 Beispiele:
    – die Radinfrastruktur in den Niederlanden ist ganz wesentlich der Kampagne „Stop den Kindermoord zu verdanken.

    – in Kopenhagen begann der Verkehrswendeprozess in den 80er des letzten Jahrhunderts.
    Der damalige Technische Bürgermeister Klaus Bondam, heute CEO des Dänischen Cykkelforbunds, auf die Frage, wie sie damals angefangen hätten:
    „Als erstes haben wir die Schulen mit kindersicheren Fahrradwegen verbunden.“

    – Zwischen 2009 und 2011 erarbeiteten 11 Städte aus der Skagerak/Kattegatt Region im „Nordic Cycle Cities“ – Projekt gemeinsam kommunale Strategien zur Etablierung und Förderung von Radverkehr unter der Führung der Radcampaignerin Marianne Weinreich.
    Zu dem dort erarbeiteten strategisch-operativen, ganzheitlichen Konzept Bicycle Account [Stand der Dinge] -> Bicycle Strategy [Ziele, Zwischenziele] -> Bicycle Action Plan [Maßnahmen] -> Bicycle Account -> … gehörten selbstverständlich soziologische Zielgruppen-Überlegungen, die zu den schwerpunktmässig und mit unterschiedlicher Infra/Aktionen anzusprechenden Radler:innen-Kategorien Kinder, Pendler, Alltagsradverkehr führten.

    – Michael Colville Andersen in Berlin: Radverkehr ist in erster Linie Soziologie [Welche Gruppen werden angesprochen/besonders gefördert], Anthropologie [Das menschliche Maß] und Verkehrspsychologie [Verhalten und Interaktion der Verkehrsteilnehmer].

  2. 2
    „Problematik der Definition von Nutzergruppen
    Die Kategorisierung nach AGNH setzt voraus, dass es möglich sei, für Streckenabschnitte „relevante Nutzergruppen“ zu eruieren“ …
    „Zum einen ist eine solche Kategorisierung für die Praxis jedoch wenig hilfreich, zum anderen kann diese Einteilung für eine Förderung des Radverkehrs kontraproduktiv sein.“

    „Relevante Nutzergruppen“, das sind erfolgreichen Radverkehrsstrategien zumeist folgende soziologische Gruppen:
    1. Alltagsradverkehr (z.B. „Care“-Verkehr), 2. Kinder (Schulradverkehr) und 3. Pendler (Berufsverkehr).
    Jede dieser Gruppen hat eine unterschiedliche Bedeutung in einer inklusiven Radverkehrsstrategie, infrastrukturell gesehen besondere Bedürfnisse, spezifische Wegebeziehungen, das Wo der auf sie zugeschnittenen Wege steht also noch vor dem Wie der technischen Anforderungen und jede Gruppe muss unterschiedlich angesprochen werden.

    Ich beschränke mich auf das Beispiel Kinder.

    1. Warum bilden sie eine spezielle Gruppe?

    Die (Mobilitäts-) Rechte von Kindern finden zu wenig Beachtung. Das ist in Politik und Gesellschaft inzwischen vielen bewusst. In Anerkennung dieser Tatsache und um das zu ändern sollen z.B. Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden.
    „… die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen …“ (Auszug aus der geplanten Änderung des Art. 6 Abs. 4 GG).

    Die Motorisierung unsere Städte hat allen voran Kinder in ihren für ihre soziale, motorische, kognitive und gesundheitliche Entwicklung zu „eigenverantwortlichen Persönlichkeiten“ (zukünftiges GG) essentiell benötigten Mobilitätsräumen und -gelegenheiten massiv eingeschränkt.
    Diese Räume und Gelegenheiten wieder bereitzustellen, hier kommen die Radverkehrsstrategie und ihre Nachhaltigkeit ins Spiel, bedeutet auch, Kindern Radfahren zu ermöglichen. Aus Sicht einer nachhaltig verstandenen Radverkehrspolitik (und damit für die Verkehrswende als Teil der Klimapolitik) ist dies die Sozialisation in ein Mobilitätsverhalten, das oft im Erwachsenenalter beibehalten und wiederum an die eigenen Kinder weitergegeben wird.
    (Hier, in diesem Alter, wird auch die Grundlage für die Verteilung in der Zusammensetzung der o.a. „Four types of cyclists“ gelegt.)

    2. Weitere Vorteile einer ‚Kinder auf Rad‘-Radverkehrspolitik.
    – Kinder sind die radaffinste Bevölkerungsgruppe (wer für sie baut, wird durch massenhafte Nutzung belohnt)
    – auf Kinder abgestellte Infrastruktur ist per se inklusiv
    – die Implantierung von Infrastruktur für Kinder erreicht vergleichsweise sehr hohe Zustimmungswerte und verbraucht deshalb in der Durchsetzung sehr wenig ‚politisches Kapital‘
    – Politiker:innen sind nicht nur Mediatoren sondern auch selbst Akteure. ‚Childhugging‘ (hier in Form von Schulradwegbau), das wissen viele von ihnen, ist ein probates Mittel um Wählerstimmen zu generieren.

    3. Wo
    Die drei oben angesprochenen soziologischen Gruppen unterscheiden in ihren spezifischen Wegebeziehungen. Deshalb steht jeweils das Wo vor dem Wie der technischen Ausgestaltung.

    Für Kinder ist zuallererst der tägliche Weg zur Schule und zurück wichtig.

    Der jetzige Vorsitzende des dänischen Fahrradverbandes Klaus Bondam war in den 80er-Jahren als Technischer Bürgermeister von Kopenhagen maßgeblich an der dortigen Verkehrswende beteiligt. Anlässlich eines Besuchs in Hamburg auf Einladung der Grünen im Jahr 2015 konnte ich ihm eine Frage stellen: Wie habt damals angefangen?
    Seine Antwort: Als erstes haben wir die Schulen mit kindersicheren Radwegen verbunden.

    Wenn man über diese Antwort ein wenig nachdenkt, so wird schnell klar: Kaum ein Kind radelt zwischen 2 Schulen hin und her. Die Verbindung der Schulen untereinander schafft vielmehr ein Netz, in dem die Schulen die Knotenpunkte darstellen. D.h. im Ergebnis wird jede Schule wird aus zwei oder drei Richtungen erschlossen. Diese Schulradwege orientieren sich selbstverständlich nicht an den kürzesten Verbindungen zwischen den Schulen, sondern sie haben den Zweck, zwischen den Schulen liegende Wohngebiete, vorzugsweise solche mit Clustern von Kindern, in jeweils beide Richtungen zu erschließen.

    3. Hat man dieses Netz mit seinen Wegebeziehungen aus den stadtsoziologischen Daten bzw. mithilfe der Schulen projektiert, dann schlägt die Stunde der Verkehrspsychologen.
    Sie legen fest, welchen aus den kindlichen Entwicklungsphasen hergeleiteten Anforderungen dieses Schulradwegnetz genügen muss. Ich empfehle dazu z.B. die Tabellen aus ‚Radfahrende Kinder in der Sek-Stufe I‘ (Koch et al, Uni Erlangen-Nürnberg/Limbourg 2008), online leider nicht mehr abrufbar.

    4. Begleitet und technisch umgesetzt wird das Ganze von Stadtplaner:innen und Ingenieuren.

    Dies Schulradwege-Netz bildet mit dem Pendlernetz (zu dem auch ein Radschnellwegenetz als grobes Backbone-Netz gehören sollte) und dem Alltagswege-Netz (an die beiden Letzteren sind selbstverständlich auch spezifischen Anforderungen zu stellen, deren Beschreibung hier jedoch zu weit führen würde) ein integriertes Radwegenetz, dessen Einzelstrecken je nach dem AAA-Standard (All Ages and Abilities) ausgeführt sind und berücksichtigt zugleich: One size doesn’t fit all.

  3. Wenn man sich das Schülerradroutennetz des Radroutenplaners Hessen anschaut, dann hat dieses ja gar nicht das Ziel, dass dort eine Netzkonzeption gemacht wird, sondern es werden dort umwegreiche und oft steigungsreiche Strecken im Tempo-30-Zonen-Netz gesucht, damit Kinder unter Meidung der Hauptstraßen über Umwege zur Schule fahren können.
    Die Qualität dieses Netzes ist oftmals mies, weil die Infrastruktur mies ist und weil nach meiner Ansicht die Arbeit des Planungsbüro (IVM) nicht sehr qualitätsvoll ist. Das mag auch am Desinteresse der Schulen und der Kommunen am Thema liegen. Letztendlich ist jedes Straße auch eine Straße, die auch von Schülern befahren werden muss – und sei es nur wenn ein Kind das andere Kind nach der Schule besucht. Von daher ist die Kritik, dass die Klassifikation in der Praxis unbrauchbar ist, völlig richtig. Sinnvoller wäre es, wenn das Land seine eigenen Planer, Polizeibehörden und Ingenieurbüros fortbildet und auf Qualität bei Neu- und Umbauten schulen würde.

  4. Hallo Susi,

    leider muss ich Dir die Illusion nehmen, dass das Schülerradroutennetz allein zur Steigerung der Fitness von Schülerinnen und Schülern bewusst umweg- und steigungsreich entworfen wurde – auch wenn der Gesundheitsaspekt natürlich ein wichtiger Treiber dabei ist, mehr Kinder und Jugendliche bei ihrem Weg zur Schule auf das Rad zu bringen. 😉

    Dieses Ziel kann also wie erreichen? Natürlich dadurch, dass ich zuerst die Infrastruktur nach bestimmten Kriterien herstelle und erst anschließend sage, jetzt dürfen auch Schüler:innen zur Schule fahren. Aber wann wären wir soweit – in 5, 20 oder 50 Jahren? Denn Planung und Bau von Infrastruktur braucht Zeit und Geld.

    Oder wären wir überhaupt jemals soweit, weil sich überlagernde Nutzungsanforderungen und -konflikte in einer dichtbesiedelten Region die komplette Umsetzung dieser Kriterien an allen Stellen verhindern? Und bis dahin müssten alle weiter mit dem Elterntaxi vorlieb nehmen? Zugegebenermaßen wurden in der Vergangenheit auch viele Fehler gemacht: Besonders im Taunus haben rückständige Planer über viele Jahre hinweg arg viele Hügel und Berge zwischen Wohnort und Schule errichtet. Im Hessischen Ried hat man gezeigt, dass man dies auch damals schon deutlich besser lösen konnte ;).

    Was ist also der Gedanke hinter dem Schülerradroutennetz, dass bereits seit 2012 entwickelt wird -zu Zeiten also, in denen für den Radverkehr vergleichweise geringe Mittel und wenig politischer Rückhalt zur Verfügung stand? Den für Schüler:innen bestmöglichen und sichersten Weg aufzuzeigen, um schon JETZT mit dem Rad zur Schule fahren zu können. Und Eltern und Schulen die Angst nehmen und Hilfestellung geben, diese Routen zu finden.

    Die Entwicklung von Routen über die Infrastruktur ist jedoch nicht zu verwechseln mit der Planung bzw. dem Bau von Infrastruktur selbst. Aber selbstverstänflich ist es gleichermaßen Ziel, mit der Diskussion um sichere Radrouten zu Schulen die Infrastruktur anzupassen, zu ertüchtigen und perspektivisch deutlich zu verbessern. Wie Vorredner gechrieben haben, ist die Sicherheit und das Wohlergehen von Kinder als vulnerable Verkehrsteilnehmende ein gewichtiges Argument gegenüber Entscheidungsträgern, um Infrastrukturanapssungen anzustoßen und ein inklusive Gestaltung der Verkehrsanlagen zu erreichen.

    Nicht zuletzt geht es ja um viel mehr als um den Weg zur Schule und Infrastruktur: Kinder und Jugendliche sollen selbstständig mobil sein können und lernen, zukünftig Mobilitätsentscheidungen treffen zu können. Und je mehr sich für das Rad entscheiden, umso präsenter wird das Rad im Straßenverkehr und umso stärker die Argumente gegenüber der Politik, den Radverkehr zu fördern und die Infrastruktur dafür zur Verfügung zu stellen – um damit schließlich zu einer breiteren Netzwirkung (z.B. für Freizeitverkehre) zu gelangen. Denn letztendlich entscheiden die gewählten Volksvertreter:innen über Neu- und Umbau und die Mittel dafür – nicht Ingenierbüros oder andere von Dir genannten Akteur:innen. Aber dafür ist bzw. war es eben notwendig, zunächst an einem Hebel anzusetzen und dei ersten Schritte zu gehen. Wobei wir wieder bei „Stop de kindermoord“ (s.o.) wären…

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