Geschützte Kreuzung – Unfallforschung warnt vor Best Practice der Niederlande – Teil 2

Zu Teil 1

Im August 2020 veröffentlichte die Unfallforschung der Versicherer – UDV die Ergebnisse eines Fahrversuchs und einer Computersimulation, die die direkten Sichten aus großen LKW an abgesetzten Furten untersuchte. Abgesetzte Furten sind die wichtigsten Elemente an geschützten Kreuzungen. Dieses Prinzip wird in den Niederlanden seit Jahren an vielen Knotenpunkten eingesetzt, es hat sich für Radfahrende als sicher, als einfach und als höchst komfortabel bewiesen. Geschützte Kreuzungen sind ein wichtiger Teil einer Radinfrastruktur für alle Typen und Altersklassen. Sie garantieren eine geschützte Führung auf einem Maximum an exklusiven Flächen, die nicht gleichzeitig von Kfz benutzt werden.

Geschützte Kreuzungen sind ein wichtiger Teil einer Radinfrastruktur für alle Typen und Altersklassen. Sie garantieren eine geschützte Führung auf einem Maximum an exklusiven Flächen, die nicht gleichzeitig von Kfz benutzt werden.

Vorrangig sollte bei dem UDV-Versuch jedoch neben den direkten Sichten vor allem die Funktion von Abbiegeassistenten an abgesetzten Furten untersucht werden. Das Ergebnis der Versuche ist in den Augen der UDV „vernichtend“. Der Spiegel zitiert die UDV mit „Umgebaute Kreuzungen werden zur Falle für Radfahrer“, der Tagesspiegel, der bei dem Versuch dabei war, zitiert den Leiter der UDV, Brockmann mit „Die Kreuzung funktioniert nicht, und der Assistent funktioniert auch nicht.“.

In Teil 1 dieses Beitrags vom Oktober hat Darmstadt fährt Rad dargestellt, warum es unsinnig ist, von der Funktionalität des Abbiegeassistenten auf die Qualitäten der Geometrie der Schutzkreuzung zu schließen und warum die Bewertungen aus einer extrem einseitigen Perspektive gemacht werden. Abgesetzte Furten gibt es im Bestand seit Jahrzehnten auch in Deutschland, die Vorteile für den Radverkehr liegen auf der Hand.

Im Folgenden soll untersucht werden, warum die Ergebnisse der UDV so ausfallen, wie sie ausfallen. Wir gehen nachfolgend auf einzelne Aussagen der UDV ein, die Rahmen des Ergebnisse des Verkehrsversuchs veröffentlicht wurden (Unfallforschung kommunal, Kommentierung UDV zu Stellungnahme ADFC, Presseberichte, etc.):

Niederländische Regelwerke

„Dabei gibt es für die genauen Maße dieser Kreuzungsform kein allgemein anerkanntes und abschließendes Regelwerk aus den Niederlanden.“ – Unfallforschung der Versicherer (UDV)

Das ist nicht ganz richtig. Auch wenn niederländische Regelwerke die geschützte Kreuzung nicht als solche bezeichnen – dieser Begriff kommt aus den USA – und auch keine Musterlösung einer mehrarmigen Schutzkreuzung präsentieren, so sind die wichtigsten Einzelteile dieses Kreuzungstyps sehr wohl enthalten. Und auf die kommt es an. Das Planungshandbuch CROW[1] empfiehlt beispielsweise etliche (teils sehr wohl bemaßte) Komponenten für geschützte Radverkehrsführungen an Kreuzungen, vor allem die abgesetzte Furt aufgrund der besseren Sichtbarkeit. Auf der anderen Seite warnt die CROW vor den Nachteilen von fahrbahnorientierten Führungen, wie z.B. Lösungen mit Radfahrstreifen ohne abgesetzte Furten oder Radfahrstreifen in Mittellage (RiM oder „Fahrradweichen“).[2]

INFOBOX

Vom fehlenden Mut, im Sinne der Verkehrssicherheit, das Parken an Hauptstraßen zu minimieren

Die deutschen Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) raten grundsätzlich von abgesetzten Furten ab[3]. Diese Empfehlung halten wir für fatal falsch. Die Studien[4], auf die sich die ERA bezieht, haben teilweise erhöhte Unfallzahlen an abgesetzten Furten feststellt. Diese Unfallzahlen resultieren jedoch aus dem Auftreten von Sichthindernissen an solchen untersuchten Knotenpunkten und nicht aus der Geometrie der Kreuzung selbst. Sichthindernisse treten vor allem durch parkende Fahrzeuge auf. Die Empfehlung, das Parken an Hauptstraßen als einen der Hauptgründe für die hohen Unfallzahlen zu bezeichnen, war nicht gewünscht. Stattdessen wurden geschützte Radwege zurückgebaut, anstatt fahrbahnbegleitende Parkstände. Mit fataler Wirkung für den Radverkehrsanteil. (In der Unfallforschung wird das Risiko durch „Parken“ mittlerweile intensiv behandelt.) Ein zweiter Fehler der ERA ist, dass nicht unterschieden wird zwischen Streckenelement und Radverkehrsfurt. Während es durchaus Sinn macht, auf der Strecke fahrbahnnah zu führen (Das funktioniert aber genauso gut über baulich getrennte Radwege oder Protected Bikelanes), sollten Furten nicht nur aufgrund eines besseren Sichtwinkels abgesetzt geführt werden. Mit einem solchen, in den Niederlanden sehr typischen Design schwindet auch das Risiko von Sichtbehinderungen. Wir haben dieses Missverständnis in dem Beitrag Wunderlösung Schutzkreuzung-Teil 2 ausführlich dargestellt.

Auch wenn die deutsche ERA[5] grundsätzlich von abgesetzten Furten abrät, (s. Infobox) so empfiehlt sie dennoch immer noch Musterlösungen mit abgesetzten Furten. Aber auch einige deutsche Musterlösungen[6] empfehlen Elemente von geschützten Kreuzungen.

Freie Sicht an Einmündungen UDV
Die UDV illustriert, auf dem ADFC Symposium „Sichere Kreuzungen für den Radverkehr“ 2019, dass im Sinne der Verkehrssicherheit aufgrund der eingeschränkten Sichtverhältnisse an Tempo 50 Straßen, kaum ruhender Verkehr geduldet werden dürfte.

Abbiegeradien

„Jedoch sind dort, wo regelmäßig größere Fahrzeuge abbiegen sollen, Radien von mindestens zwölf Metern erforderlich, die ein vorsichtiges und langsames Abbiegen ermöglichen, ohne dass der gesamte Kreuzungsinnenbereich mitgenutzt werden muss.“ – UDV

Es ist richtig, dass kleine Eckradien dazu führen, dass große LKW weiter in die Innenbereiche der Knotenpunkte ausholen müssen, um abzubiegen. Der Grund dafür, dass es große Eckradien gibt, ist jedoch selten das geringe Flächenangebot, sondern eine gewünschte Flüssigkeit des LKW-Verkehrs, die eher mit einem „Schneiden“ der Kurve erreicht wird, das heißt große Radien sind gewünscht. Ein Abbiegen in kleinerem Radius, sorgt jedoch für günstigere direkte Sichtverhältnisse auf abgesetzte Radfahrende. Daher wäre zu überprüfen, ob kleine Eckradien in Verbindung mit mehr Fläche im Kreuzungszentrum nicht vorteilhafter sind.

Konflikte mit dem Fußverkehr

„Allerdings entstehen dadurch auch erhebliche Konflikte mit querendem Fuß- und Radverkehr und es kann bei hohen Radverkehrsstärken auch zu Rückstau kommen, der die querenden zu Fuß Gehenden und Radfahrenden behindert.“ – UDV

geschützte Kreuzung Skizze UDV
Geschützte Kreuzung Skizze der Unfallforschung der Versicherer

Die UDV weist auf mögliche Konflikte mit Rad- und Fußverkehr hin. Es ist richtig, dass an den in der Skizze markierten Stellen Konflikte auftreten können. Man muss hier jedoch den Vergleich machen zu einer Kreuzung ohne geschützte Führung, d.h. beispielsweise mit einer Führung auf Radfahrstreifen in Mittellage oder ungeschützten Radfahrstreifen. Im Umfeld solcher Kreuzungen, die nicht die subjektive Sicherheit berücksichtigen, treten großflächig Regelverstöße von Radfahrenden durch Gehwegfahren oder Linksfahrten auf. Diese werden durch geschützte Kreuzungen minimiert. Die Verkehrsmittel werden kanalisiert, die Konfliktpunkte Rad-Fuß ebenso wie Rad-Kfz werden zentralisiert. Durch die Anlage von FGÜ (Zebrastreifen) kann diese kritische Zone hervorgehoben und die Vorfahrt von Fußgänger*innen verdeutlicht werden. An fahrbahnorientierten Kreuzungen ebenfalls zu beobachten ist ein Umgehen des Lichtsignals beim Rechtsabbiegen durch die Benutzung des Gehwegs. Die geschützte Kreuzung setzt auch hier an, indem sie dieses freie Rechtsabbiegen legalisiert. Die Begegnungszonen sind jedoch auf die Kreuzungspunkte mit dem Fußverkehr beschränkt. Verkehrsteilnehmer wissen, wo eine erhöhte Aufmerksamkeit gefordert ist. Im Gegenzug dazu sind die Gehwege weitgehend radverkehrsfrei. Das entspannt die Aufmerksamkeiten bei allen Verkehrsteilnehmern. „Erhebliche“ Konflikte entstehen vorwiegend auf Kreuzungen, die die Bedürfnisse von Radfahrenden nach Sicherheit und Flüssigkeit nicht berücksichtigen.

Präsentation UDV ADFC Symposium 2019
Vorbehalte der UDV gegenüber geschützten Kreuzungen. Folie des Vortrags der UDV auf der ADFC-Fachtagung „Sichere Kreuzungen“ 2019. Die UDV hat dem Schema von Darmstadt fährt Rad Elemente zugefügt. Die dargestellten toten Winkel der Skizze des LKW entsprechen nicht der Realität, viele der aufgezählten Probleme sind wenig differenziert betrachtet.

Rad-Rad-Konflikte an solchen Kreuzungen sind, wie die niederländische Praxis zeigt, zu vernachlässigen. Radfahrende fahren an den angesprochenen kritischen Stellen automatisch vorsichtiger. In Verbindung mit der für Radfahrende günstigen Rundumsicht herrscht in der Praxis erhöhte Rücksicht. Wie überraschend flüssig solche Knotenpunkte unter Radfahrenden funktionieren, zeigt auch die Erfahrung mit sogenannten Rundumgrünkreuzungen, bei denen der Radverkehr aller Richtungen gleichzeitig Grünsignal bekommt.

Verkehrsteilnehmer wissen, wo eine erhöhte Aufmerksamkeit gefordert ist. Im Gegenzug dazu sind die Gehwege weitgehend radverkehrsfrei.

Die Funktion des Abbiegeassistenten an bestehenden abgesetzten Furten

„Konstruiert wurde der Abbiegeassistent für „normale“ Kreuzungen, hier warnen die Geräte sicher.“ – UDV

Ein guter Abbiegeassistent zeichnet sich … dadurch aus, dass er Fehlwarnungen weitgehend vermeidet. Er erkennt daher zu Recht den sich von der Fahrbahn entfernenden Radfahrenden als Abbieger, der den Fahrweg nicht kreuzen wird.– UDV

Kreuzungen ohne fahrbahnnahe Furten sind keine „unnormalen“ Kreuzungen. Kreuzungen mit abgesetzten Furten gibt es schon lange und immer noch. Auch in Deutschland. Überall dort, wo der Radverkehr auf Radwegen geführt wird, werden diese auch teilweise immer noch gebaut. Musterlösungen aus Baden-Württemberg oder Hessen empfehlen auch heute noch Lösungen mit abgesetzten Furten. Und ebenfalls in Verkehrskreiseln mit parallelen Radwegen sind abgesetzte Furten absolut typisch und vorhanden. Der Verkehrsversuch der UDV zeigt lediglich, dass der Abbiegeassistent nicht für jeden bestehenden Kreuzungstyp entwickelt wurde, sondern nur für fahrbahnnahe Radverkehrsführungen, Führungen, bei denen Radfahrende abhängig sind vom Verhalten von LKW-Fahrenden. Gerade an solchen Kreuzungsdesigns, bei denen Radfahrende lediglich in den Spiegeln sichtbar sind, geschehen die meisten Unfälle mit abbiegenden LKW. (Mehr dazu unter der Überschrift Fahrbahnnahe Kreuzungsdesigns.) Daher ist es sehr sinnvoll, dass für diese risikoreicheren Situationen ein Abbiegeassistent für zusätzliche Sicherheit sorgen kann. Es ist jedoch irreführend, wenn dadurch Rückschlüsse auf die Qualität von abgesetzeten Furten gezogen werden.

Direkte Sicht von Radfahrenden

„Erst bei neun Metern abgesetzter Furt sind Radfahrende für einen Bruchteil einer Sekunde direkt zu sehen…. Die direkte Sicht über das Fenster nach vorne heraus ist in keinem Fall möglich.“ – UDV

Die Ergebnisse des Fahrversuchs sowie der Simulation widersprechen den Praxisversuchen von Darmstadt fährt Rad, den geometrischen Untersuchungen, sowie anderen Studien und Untersuchungen zu dem Thema.

Das Planungsbüro ARGUS hat in der Zeitschrift Straßenverkehrstechnik (05.2020) eine ausführliche Untersuchung zum Thema geschützte Kreuzungen veröffentlicht, mit dem Ergebnis, dass geschützte Kreuzungen ein hohes Maß an direkter Sichtbarkeit garantieren. Den Verkehrsversuch der UDV bezeichnet ARGUS, als „eine zu starke Vereinfachung mit nicht ausreichend differenzierten Schlussfolgerungen“.

Die Studie Niewöhner 2004[7] untersuchte noch vor der Einführung der eurogenormten Spiegel die Sichten aus LKW und empfahl als bauliche Lösung die Anlage von Kreuzungen mit abgesetzten Furten. „Die für den Kreisverkehr angesprochene Problematik gilt prinzipiell auch für die anderen Knotenpunkte. Auch hier kann ein größerer Abstand zwischen der Kreuzungsmitte und der Querungsmöglichkeit für Radfahrer und Fußgänger helfen, die Situation beim Rechtsabbiegen zu entschärfen.“

Auch in der niederländischen Studie Schepers 2010[8] wird ein Absetzen der Furten als günstig erachtet: „Bei einem Abstand von 5 m wird der rechts abbiegende LKW im Konfliktpunkt mit dem Radfahrer so weit gedreht, dass der Fahrer einen direkteren Blick auf den Radfahrer hat.“

In der dänischen Studie Madsen 2015[9] haben Kreuzungen, die auf dem Prinzip der abgesetzten Furt beruhen, am besten abgeschnitten.

Frontansicht LKW
Schema der Maße erhoben in Summerskill (2015)

Die britische Studie Summerskill (2015)[10] hat gängige LKW Modelle modelliert und jeweils sowohl die indirekten (Spiegel) wie auch die direkten (Fenster) Sichtfelder untersucht. In diesem Zusammenhang konnten die Orte, an den Fußgänger und Radfahrer gerade so durch die Fenster unsichtbar werden, bestimmt werden. Je weiter sich die Personen wegbewegen, desto mehr wird von ihnen sichtbar. Auch für die LKW Modelle aus dem UDV-Test Mercedes Actros (Feldversuch) und DAF XF (Simulation) liegen Modelle vor. Anhand der nachfolgenden Tabellen fällt auf, dass der LKW DAF XF einer der LKW-Modelle mit eher schlechtem Sichtfeld ist. Je nach Position des Radfahrers liegt der Mercedes ebenfalls bei den LKW mit schlechtem Sichtfeld bzw. im Mittelfeld. (Da die Grafiken einer britischen Studie entnommen wurden, ist aufgrund des Linksverkehrs zu beachten, dass die Illustrationen gedanklich gespiegelt werden müssen.) Als Größe für die LKW- und Rad-Fahrer wurde je ein Fahrer mit einer Körpergröße des 50er Perzentils ausgewählt, also eine durchschnittliche Körpergröße.

Sichten_Abstände Radfahrender 1
Abstände (in mm!) vom LKW zu Versuchs-Radfahrender 1, bei dem dieser geradeso nicht mehr sichtbar ist. – Summerskill 2015
Sichten_Abstände Radfahrer 2
Abstände (in mm!) vom LKW zu Versuchs-Radfahrender 2, bei dem dieser geradeso nicht mehr sichtbar ist. – Summerskill 2015

Darmstadt fährt Rad hat die Sichtfelder des LKW DAF XF in eine 3D Perspektive eingefügt und auf die Screenshots der UDV-Simulation übertragen. (Furtabsetzung 5m)

Rundumsicht DAF XF_Schema
Darstellung für die Rundumsicht des LKW DAF XF: In der Frontansicht zeigt die blaue gestrichelte Linie, die Augenhöhe des LKW-Fahrers gemäß UDV-Test an (2,53m). Das ergibt eine etwas ungünstigere untere Sichtlinie (blaue durchgezogene Linie) als von der Studie Summerskill angenommen (Augenhöhe = rote gestrichelte Linie). Auf Grundlage der blauen Linie ist bei 9m Abstand ein Objekt ab ca. 90cm Höhe sichtbar.

Die nachfolgende Grafik zeigt die beiden gänzlich grauen Radfahrer im Vordergrund, die mit dem Kopf gegen das Sichtfeld stoßen, sowie weiter entfernte Radfahrer. Vom roten Radfahrer ist lediglich der Kopf zu sehen, vom gelben Kopf und Brust, und vom grünen der Oberkörper. Die Abstände der farbigen Radfahrer zwischen LKW und linkem Lenker sind der Tabelle zu entnehmen.

Sicht LKW_außen oben
Position RadfahrerAbstand zum LKW
Roter Radfahrer3 m
Gelber Radfahrer3,8 m
Grüner Radfahrer4,6 m
Phasen_Simulation UDV
Gegenüberstellung der Simulation von Darmstadt fährt Rad (Jan. 2020) und der UDV (Okt. 2020) (Grafik: Oben: Darmstadt fährt Rad. Unten: Basis: Screenshots der Videosimulation der UDV mit Ergänzungen der Rundumsichten durch Darmstadt fährt Rad.)

In der UDV-Simulation fährt der LKW durchgängig 7 km/h, was der vorgeschriebenen Schritt-Abbiegegeschwindigkeit nach StVO-Novelle entspricht (7-10 km/h). Auf einen anfahrenden LKW darf diese Geschwindigkeit in der Praxis zutreffen. Weitaus kritischer ist jedoch – anderes als bei Unfällen mit abbiegenden PKW – die Situation, wenn Radfahrer und LKW bei Grün durchfahren. Gemäß einer Studie[11] biegen 77% aller kollidierten LKW an der Kreuzung ohne Halt ab, laut einer anderen Studie[12] machen 86% aller abbiegenden in Unfälle verwickelten LKW nicht mal eine Bremsung. Ob 7 km/h für die zukünftige Praxis für einen durchfahrenden LKW ein vernünftiger Wert ist, ist fraglich.

Der Radfahrer fährt durchgängige 17,5 km/h. In der Praxis würde er in der Situation wahrscheinlich vor der geschützten Kreuzung etwas langsamer werden.

Sicht LKW_innen
Die Sicht aus dem Seitenfenster der LKW Kabine bei Sekunde 1 vor der Kollision. (Die Kabine entspricht nicht 100% dem Design eines DAF XF, die Sicht kann daher etwas von der Realität abweichen. Der Sichtkegel basiert jedoch auf den Daten der Studie Summerskill (2015)

Diese Konstellation führt bei der UDV in Verbindung mit dem angenommenen Abbiegeverhalten des LKW (bordsteinnahes Fahren) dazu, dass der Radfahrer in der Heranfahrt im Spiegel immer gesehen wird, ca. bei Sekunde 1 vor Kollision jedoch kurz den toten Winkel durchfährt. Dieser Bereich ist jedoch nicht länger als der Radfahrer selbst.

Die von Darmstadt fährt Rad vorrausgegangene Untersuchung vom Januar 2020 ging von der kritischsten Situation und typischsten Geschwindigkeiten nach Studienlage aus. Angenommen wurde, dass der LKW eine typische Schleppkurve fährt. Unter diesen Voraussetzungen ist der Radfahrer immer entweder im Spiegel und in der letzten Reaktionsmöglichkeit zur Verhinderung einer Kollision auch direkt im Fenster sichtbar.

In der Konstellation der UDV-Simulation ist der Radfahrende gemäß UDV lediglich in den Spiegeln sichtbar. Im Schaubild wird deutlich, dass der Kopf des Radfahrers (3m entfernt) wenn auch nur knapp, in der Sekunde -0,64 im Seitenfenster durch einen durchschnittlichen LKW-Fahrer zu sehen sein müsste. Die UDV Simulation ging von einer Augenhöhe von 2,53m über dem Boden aus. Bei 9m Entfernung im direkten Sichtfeld wäre so ein Objekt ab ca. 90cm Höhe bereits sichtbar, von einem durchschnittlich großen Radfahrer wäre der Kopf bereits bei 3,80m sichtbar.

Aufgrund der Analyse ist festzuhalten, dass Personen neben dem LKW sich entweder in toten Winkel (Im roten Bereich, also genau zwischen indirekter und direkter Sicht) befinden oder wenn nicht, bereits ab ca. 3m-3,8m Entfernung vom LKW durch das Fenster sichtbar sind.

Fahrbahnnahe Kreuzungsdesigns

„Die Erkennung von Radfahrenden durch LKW-Führende wird gegenüber dem klassischen Kreuzungsdesign jedenfalls nicht verbessert und technische Hilfsmittel wie Spiegel … werden ausgehebelt.“ – UDV

Zunächst einmal ist es ein Irrglaube, dass es ein „klassisches“ Kreuzungsdesign gibt. Wie bereits erwähnt, sind abgesetzte Furten immer noch üblich, mit „klassisch“ ist hier vielmehr ohne Furtabsetzung gemeint.

Wie im vorherigen Absatz beschrieben, trifft die Aussage, die Sicht würde nicht verbessert nur auf eine ganz bestimmte Konstellationen zu. Grundsätzlich ist der erste Teil dieser Behauptung zu kurz gedacht. Wie im Beitrag Wunderlösung Schutzkreuzung-Teil 2 beschrieben, sind Radfahrende bei fahrbahnnaher Führung ausschließlich im Spiegel sichtbar. Die Nachteile von Spiegelsichten wurden ebenso beschrieben (verzerrte und verkleinerte Bilder, Überforderung der Fahrer, die große Anzahl von Spiegeln während der Fahrt zu überwachen). Auch wenn bei abgesetzten Furten die ungeschützten Verkehrsteilnehmer kurzzeitig in Spiegeln nicht mehr sichtbar sind, so ist die Gesamtrundumsicht bei einer abgesetzten Geometrie weitaus optimaler. Bei geschützten Kreuzungen können die direkten Sichten zusätzlich dazu beitragen, Unfälle zu verhindern.

Die meisten Abbiegeunfälle mit Todesfall (sind zu 90% Unfälle mit LKW und Bussen) geschehen in Deutschland auf Straßen mit fahrbahnnahen Furten. In den Jahren 2019 und 2020 ereigneten sich über 90% aller Abbiegeunfälle bei Unfallkonstellationen mit fahrbahnnahen Furten (74% auf 0-2m abgesetzten und 17% 2-5m abgesetzten).[13] Nur in 17% aller Fälle spielen Sichthindernisse dabei eine Rolle. Bei der Studie Kolrep-Rometsch (2013) zu Unfällen an Knotenpunkten mit PKW schnitten bei signalisierten Knoten die mittelabgesetzte Furten, bei Kreuzungen ohne Ampel weit abgesetzte Furten schlechter ab. Und das vorwiegend aufgrund der Sichthindernisse, die an Knoten mit Abbiegeunfällen zu 41% auftraten.[14]

Es ist anzunehmen, dass fahrbahnnahe Furten für LKW (also der Fall, dass Radfahrende lediglich über indirekte Bilder wahrgenommen werden können) ein weitaus größeres Unfallrisiko darstellen als für PKW, dass abgesetzte Furten durch die Integration des direkten Sichtfelds helfen, LKW Unfälle zu verhindern. Abbiegeassistenten setzen genau an dieser Stelle an. Sie würden also bei 90% aller Abbiegeunfälle so funktionieren, wie sie konzipiert wurden. Das spricht jedoch nicht gegen abgesetzte Furten, da diese bei Unfällen mit LKW nur eine nachrangige Rolle spielen.  

Es ist anzunehmen, dass abgesetzte Furten durch die Integration des direkten Sichtfelds helfen, LKW Unfälle zu verhindern.

Fazit

  • Die UDV stellt ein Worst-Case Szenario in den Verkehrsversuchen dar. Das ist mit Sicherheit sinnvoll, sollte jedoch erwähnt werden. Denn ändert sich eine Komponente des Szenarios, verbessert sich das Ergebnis. So ist bei fast allen anderen großen LKW (außer MAN) die Sicht günstiger. Bevor ein alles vernichtendes Urteil zur Qualität der Sichtverhältnisse an abgesetzten Furten gesprochen werden kann, sollten die direkten Sichten aus allen Fahrzeugen, insbesondere aus kleineren LKW mit besserer direkter Sicht, Transportern und auch die aus PKW in ähnlichen Versuchen untersucht werden.

Bevor ein alles vernichtendes Urteil zur Qualität der Sichtverhältnisse an abgesetzten Furten gesprochen werden kann, sollten die direkten Sichten aus allen Fahrzeugen, insbesondere aus kleineren LKW mit besserer direkter Sicht, Transportern und auch die aus PKW in ähnlichen Versuchen untersucht werden.

  • Es braucht also eine bestimmte Konstellation, damit der Radfahrer wirklich nicht sichtbar ist. Die direkte Sichtbarkeit an der kritischen Zone hängt ab von der gefahrenen Schleppkurve des LKW, von der Größe der LKW-Kabine, von der Körpergröße und damit Augenhöhe des Fahrers und von der Größe der transparenten Teile der Kabine. Diese Parameter wirken sich auch auf die Größe des toten Winkels zwischen Seitenfenster und indirektem Sichtkegel aus und auf die Entfernung ab der innerhalb des Sichtkegels des Seitenfensters der Radfahrer gesehen wird.
  • Kleinere Eckradien in Verbindung mit mehr Raum zum Ausholen führen wahrscheinlich dazu, dass die direkte Sicht aus LKW Kabinen günstiger wird. Das wäre weiter zu untersuchen.
  • Im Verkehrsversuch wurde nicht untersucht, wie gut Radfahrende in der Kreuzungszufahrt zu sehen sind, da sich die frühzeitige Wahrnehmung der Radfahrenden auf das Verhalten des LKW-Fahrenden beim Abbiegen auswirkt.
  • Einer der wichtigsten Schlüsse aus dem Verkehrsversuch ist, dass allein das Design der Kabinen einiger großer LKW eine große Gefahr für ungeschützte Verkehrsteilnehmer darstellt. Unnötigerweise, denn es gibt bereits Kabinenmodelle (beispielsweise Mercedes-Benz Econic, Scania LEC, Volvo LEC), die eine deutlich bessere direkte Rundumsicht bieten. Leider wird dieser Punkt von der UDV unterschlagen.
  • Konflikte mit dem Fußverkehr entstehen an Kreuzungen mit Radwegen, die Radfahrende mit Kraftfahrzeugen teilen eher großflächig, während sie bei geschützten Kreuzungen auf wenige Kreuzungspunkte beschränkt sind.
  • Abgesetzte Furten sind keine Neuheit. Zum einen gilt das in Bezug auf Radwege
  • zum anderen trifft das ebenfalls auf die Furten von Fußgängern zu. Dass Radfahrende – wie die UDV behauptet – erst ab 9m sichtbar werden, würde dann auch für Fußgänger gelten. Und zwar schon immer. Für das Ergebnis des Verkehrsversuch der UDV würde das vielmehr bedeuten, dass zum einen große LKW nicht verkehrssicher sind, aber auch dass der Abbiegeassistent nicht für Fußgänger und nicht für deutsche Straßen konzipiert ist und damit ein Produkt ist, das nur bei bestimmten Kreuzungsgeometrien funktioniert, die wiederum auf andere Unfall-Konstellationen nachteilig wirken können.

Für das Ergebnis des Verkehrsversuch der UDV würde das vielmehr bedeuten, dass zum einen große LKW nicht verkehrssicher sind, aber auch dass der Abbiegeassistent nicht für Fußgänger und nicht für alle deutsche Straßen konzipiert ist


[1] CROW Design Manual for Bicycle Traffic, fietsberaad, 2016: Design sheet V26, V28, V31, V35

[2] ebenda: Design Sheet V27: „less safe than a cycle path 4 to 5 m from the carriageway.”; V29 „children and elderly will perceive the crossing situation to be unsafe“; V30: „a lot of conflict“, „weaving ist perceived to be awkward and unsafe“

[3] ERA, FGSV, 2010: 4.4.2 „Die Führung des Radverkehrs über abgesetzte Furten ist unfalträchtiger als über nicht abgesetzte.“ 4.4.8 „Lage von Radverkehrsfurten Der geradeaus fahrende Radverkehr soll in der Regel fahrbahnnah geführt werden…“

[4] Schnüll et al., Sicherung von Radfahrern an städtischen Knotenpunkten, BASt, 1992; Angenendt et al., Unfallrisiko und Regelakzeptanz von Fahrradfahrern, BASt, 1993: „Ein besonderes Problem stellt hier die mangelnde Sichtbeziehung aufgrund parkender Fahrzeuge dar“; Allrutz et al., Unfallrisiko und Regelakzeptanz von Fahrradfahrern, 2009, BASt: S.3: „Die mittleren Unfallraten (Radfahrerunfälle bezogen auf die Radverkehrsstärke) der Straßen mit Radwegen liegen etwas höher als die der Straßen mit Radfahrstreifen und Schutzstreifen. Aber auch: „Eine generelle Präferenz für einen Anlagentyp kann aufgrund der Untersuchungsergebnisse nicht getroffen werden“; Kohlrep-Rometsch, Abbiegeunfälle Pkw/Lkw und Fahrrad, UDV, 2013: S.108: „aufgrund der besseren Sichtbarkeit der Radfahrer wird eine Führung auf der Fahrbahn oder eine fahrbahnnahe Führung empfohlen.“

[5] ERA, 2010: Bild 43, Bild 47 (abgesetzte Furt mit freiem Rechtsabbiegen), Bild 61 (Kreisverkehr)

[6] HMWEVW, Radnetz Hessen Qualitätsstandards und Musterlösungen, 2019: Musterblatt RSV-5-7, 15, RDV 7-11, 20 etc.; Musterlösungen für Radverkehrsanlagen in BW, 2017: Musterblatt 4.5-4, 9.3-1, 2 etc.

[7] Niewöhner, Gefährdung von Fußgängern und Radfahrern an Kreuzungen durch rechts abbiegende Lkw,BASt, 2004: S.60

[8] Schepers, Oversteekongevallen met fietsers, 2010

[9] Madsen 2015 – Comparison of five bicycle facility designs in signalized intersections using traffic conflict studies

[10] Summerskill et al., Understanding direct and indirect driver vision in heavy goods vehicles, 2015

[11] Schreck und Seiniger, 2015, S. 14 f.

[12] Hamacher et al., 2016, S. 52

[13] Eigene Erhebung auf Grundlage einer Analyse der Absetzung der Furten an Unfallkreuzungen mit Todesfolge mithilfe von Polizei- und Presseberichten, Google Maps, Streeview oder Mapillary. Für genauere Werte, müsste das Unfallgeschehen über mehrere Jahre analysiert werden, was nicht einfach ist, da der Zustand der Straße zum Zeitpunkt des Unfalls nur schwer zu rekonstruieren ist. Für die Jahre 2019-2020 konnten (meist nachträgliche) Umbaumaßnahmen nachvollzogen werden.

[14] Kolrep-Rometsch, 2013, S.82, Tabelle 14

3 Kommentare

  1. Kompliment! Sehr gut nachvollziehbare Gegenüberstellung von Darmstadt fährt Rad. Wer aufmerksam liest, kann erkennen, wie engstirnig und populistisch die UDV-Studie geschrieben ist und eine Autolobby-Sicht auf die Dinge darstellt.

  2. Alfons Krückmann sagt: Antworten

    „Die meisten Abbiegeunfälle mit Todesfall (sind zu 90% Unfälle mit LKW und Bussen) geschehen in Deutschland auf Straßen mit fahrbahnnahen Furten. In den Jahren 2019 und 2020 ereigneten sich über 90% aller Abbiegeunfälle bei Unfallkonstellationen mit fahrbahnnahen Furten (74% auf 0-2m abgesetzten und 17% 2-5m abgesetzten)“

    Schlussfolgerungen in Bezug auf Gefährlichkeit wäre nur dann valide, wenn eine Gleichverteilung der jeweiligen Furten vorläge. Sollte zB der Typ ‚fahrbahnnahe Führung‘ zu 95% überwiegen, dann wäre die Interpretation ja genau andersrum gültig.
    Kurzum: ohne Kenntnis/Nennung der Anteiligkeit der Führungstypen ist sowas statische Desinformation.

    1. @darmstadtfaehrtrad sagt: Antworten

      Danke für Deinen Kommentar. Dieser Vergleich ist im Beitrag durchgeführt worden. Bitte mal nachschauen.

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