QUALITÄTS-CHECK RADVERKEHRSNETZ DARMSTADT – Teil 2

SUBJEKTIVE SICHERHEIT – STRESSLEVEL – EMOTIONALE KARTIERUNG

Analyse aller Straßen ≥ 40km/h

Zu Teil 1

IN KÜRZE

In Teil 1 des Qualitäts-Checks Radverkehrsnetz Darmstadt von 2019 wurden an allen Hauptstraßen 9,2% regelkonforme Radwege festgestellt. 2020 hat sich dieser Anteil leicht erhöht auf 9,5%.

Im Teil 2 werden nun die Ergebnisse der Analyse von 2019 hinsichtlich der subjektiven Sicherheit ergänzt:

An 17,6% aller Hauptstraßen Darmstadts existieren heute  Radverkehrsanlagen, die ein stressfreies und entspanntes Radfahren ermöglichen, dass ausreicht, um eine Mehrheit dazu zu bewegen, mehr Rad zu fahren. Diese Bedürfnisse werden von 60% aller Verkehrsteilnehmer (80% aller Radfahrenden) geteilt.

EINFÜHRUNG

Im ersten Teil der Analyse des Radverkehrsnetzes wurde die Qualität des Darmstädter Radverkehrsnetzes hinsichtlich Kriterien von Regelwerken und Forschung untersucht.

In diese Kriterien sind vor allem eher physikalische Grundüberlegungen eingeflossen. Die Breite der Radverkehrsanlage ergibt sich aus dem Platzbedarf von Radfahrenden und ihrem Fahrverhalten. Indirekt wirkt sich dies auch aus auf die Möglichkeiten des Überholens (Kompensation von Geschwindigkeitsunterschieden) und des Nebeneinanderfahrens (soziale Komponente), die Qualität des Fahrbelags ist entscheidend für die Verkehrssicherheit und ein widerstandsarmes Fahren, das möglichst wenig Kraft erfordert.

Dass diese Qualitäten für die Sicherheit des Radfahrens wichtig sind, zeigt die Unfallforschung. Diese fundiert ihre Untersuchungen zumeist auf polizeilich erfassten Unfalldaten. Ein schlechtes Radnetz führt z.B. zu höherer Rate von links fahrenden Radfahrer*innen (Geisterfahrern) und damit zu einer erhöhten Unfallrate.

Für das Gelingen der Mobilitätswende stellen diese Zahlen jedoch nur eine Seite der Medaille dar. Die Unfallforschung der Versicherer (UDV) hat in der Untersuchung Abbiegeunfälle Pkw/Lkw und Fahrrad (Forschungsbericht Nr. 21) Verkehrsteilnehmer befragt, welche Art der Radverkehrsführung sie bevorzugen. Bei der Telefonbefragung wurden zusätzlich zu Radfahrenden auch andere Verkehrsteilnehmer befragt mit dem Ergebnis, dass eine Radwegführung (von der Fahrbahn abgesetzte Radverkehrsführungen) von 70% aller Verkehrsteilnehmer bevorzugt wird. Bei der Vor-Ort-Befragung, wurden ausschließlich Radfahrende befragt. Interessant ist, dass auch eine überwiegende Mehrheit von Menschen, die schon Rad fahren, eine geschützte Führung von bevorzugen. Eine solche Führung wird sogar von knapp 80% aller Radfahrenden am sichersten eingeschätzt. Jüngste Befragungen wie unter anderem die vom Tagesspiegel bestätigen diese Tendenz.

Eine Mehrheit wünscht sich getrennte Radwege.

In der Hoffnung, der Mensch auf dem Fahrrad passt sich an die vorgegebenen Strukturen an, bildet die seit Jahrzehnten gebaute Realität nicht das Bedürfnis von Radfahrenden nach Trennung von motorisierten Verkehr ab. Die StVO (ü. StVZO) [1] definiert das Fahrrad als ein Fahrzeug und verortet es grundsätzlich auf derselben Fahrbahn mit anderen Fahrzeugen, die knapp 40 Tonnen schwerer sind und bis zu 85km/h schneller. Vom Unterschied der Schutzausstattung oder der Rundumsicht ganz zu schweigen. Hier spielt der Mensch eine untergeordnete Rolle. Es gibt in Deutschland einen Zusammenhang zwischen dieser Grundansicht und einem seit Jahrzehnten weitgehend gleichbleibenden Radverkehrsanteil.

Erhebungen von Roger Geller und Jennifer Dill aus Portland[2] haben ergeben, dass ca. 60% aller Verkehrsteilnehmer sich vorstellen könnten, Fahrrad zu fahren, es aber nicht tun, weil sie Sicherheitsbedenken haben, oder weil ihnen das Fahrradfahren zu unbequem ist (Gruppe der Interessierten aber Besorgten). Bis zu 9% wurden zur Gruppe der Begeisterten und Überzeugten gezählt. Je nach Untersuchung sind bis zu 6% stark und furchtlos und fahren auch auf der Fahrbahn Rad. Ca. 25% sind auf keinen Fall für das Radfahren zu begeistern. Deutsche Zahlen bestätigen diese Tendenz[3], die ein erhebliches Potential für die Verkehrswende bedeutet.

Four Types Of Cyclists

Das Angebot für Radfahrende darf sich also nicht mehr nur auf die Minderheit derjenigen beschränken, die sowieso schon Fahrrad fahren. Wer will, dass mehr Menschen Fahrrad fahren, kann sich nicht nur auf die Unfallzahlen beschränken. Soll die Zielgruppe der Nutzer von Radverkehrsanlagen erweitert werden, der muss eine Infrastruktur schaffen, die zusätzlich bequem, attraktiv und einfach ist. Radfahren muss sich sicher anfühlen.

Merkmale eines guten Radverkehrsnetzes: Geringer Stress, bequem, einfach, attraktiv, sicher
Merkmale eines guten Radverkehrsnetzes

Ob sich Menschen bei der Wahl des Verkehrsmittels für das Fahrrad entscheiden, hängt u.a. davon ab, wieviel (negativen) Stress das Radfahren bei ihnen erzeugt. Das Projekt Urban Emotions hat über die TU Kaiserslautern die Stresswerte von Fahrradfahrern durch Sensoren und Kameras festgehalten (z.B. in Kaiserslautern[4] und in Worms[5]) und in sogenannten Heat-Maps[6] visualisiert. So können (subjektive) Gefahrenpunkte im städtischen Straßennetz ausgemacht werden. Interessant dabei war, dass sogar erfahrene Radfahrende Stressmomente erlebten, diese jedoch nicht bewusst wahrgenommen hatten.

INFOBOX

EMOTIONALE STRASSENKARTIERUNG

Der menschliche Körper reagiert im Alltag ständig auf Reize. Er antwortet mit schnellerer Atmung und höherem Blutdruck, größerer Aufmerksamkeit und Ausschüttung von Stresshormonen. Stress kann positive Gefühle auslösen. Die Auslöser von Stress-Reaktionen können aber auch überfordern. Dann werden durch diese Erlebnisse eher negative Gefühle geweckt. In welcher Form sich Stress-Reaktionen bemerkbar machen ist höchst individuell. Auch das Radfahren empfinden Menschen als unterschiedlich stressig. Mit der tatsächlichen Bedrohung hat das nicht immer etwas zu tun. Es gibt jedoch auch im Straßenverkehr Situationen, in denen macht es durchaus Sinn, dass Menschen gestresst werden und dadurch aufmerksamer auf Gefahrensituationen reagieren. Im Hinblick auf zahlreiche Unfälle mit abbiegenden LKW ist es sicherlich angebracht, ein Risiko zu vermuten, wenn an Kreuzungen LKW in die Nähe kommen. Ob es nun objektive oder eher subjektive Gründe für negatives Stressempfinden gibt, ist dann nicht wichtig, wenn sich die Frage stellt, ob Menschen das Rad oder andere Verkehrsmittel wählen.

Stress lässt sich messen. So hat die TU Kaiserslautern anhand von Sensorarmbändern Körperreaktionen bei Radfahrenden gemessen. Auch „mutige“ erfahrene Radfahrer erlebten – oft unbewusst – während dieses Experiments eine Reihe von Stressmomenten. In einer Durchschnittsbewertung können mit dieser Methode über sogenannte Heat Maps Hotspots im Straßenraum festgestellt werden, die bei Radfahrenden Stress auslösen.

Diese Stress-Faktoren wurden in drei Kategorien unterteilt[7]. Beim Radfahren bedingen das Stressempfinden oft mehrere Faktoren gleichzeitig:

  • Horizontale Effekte:
    Kreuzungen, Engstellen, Hindernisse, Gegenverkehr
  • Vertikale Effekte:
    Topographie, Schwellen wie Bordsteinkanten, Qualität der Oberfläche
  • Anthropogene Effekte:
    Verständlichkeit der Routenführung, Verhalten anderer (Konflikte mit Fußgängern,
    Überholmanöver, Dooring)

Merkmale aus der Analyse-Teil 1 wie enge Radwege, Mischführung mit Fußverkehr und auf der Fahrbahn, und Qualitäten des Belags wirken also direkt als Stressmomente auf den Menschen ein. Dieses negative Stresserleben hat einen wichtigen Einfluss darauf, ob Menschen zufrieden Rad fahren. Hier werden die Weichen gestellt, ob das Fahrrad als Verkehrsmittel gewählt wird.

Wissenschaftler der Universität San José, USA haben 2012 in der Studie Low-Stress Bicycling and Network Connectivity[8], bestimmte Infrastrukturelemente vier verschiedenen Nutzergruppen zugewiesen. Ein Wegeabschnitt der höchsten Qualitätsstufe bedeutet, dass dieser am wenigsten Stress auslöst und somit von allen Nutzergruppen gefahren wird. Eine solche Wegestrecke erhält die Kategorie LTS 1 (level of traffic stress). Eine LTS 4 Strecke löst am meisten Stress aus und wird nur noch von der Zielgruppe der „Furchtlosen“ (Gruppe 3) benutzt.

Ziel eines guten Radwegenetzes ist ein Standard mit Stresslevel 2. Es hat sich gezeigt, dass ein Radverkehrsnetz dieser Qualitätsstufe die größte Zielgruppe bedient.

Ziel eines guten Radwegenetzes ist ein Standard mit Stresslevel 2. Es hat sich gezeigt, dass ein Radverkehrsnetz dieser Qualitätsstufe die größte Zielgruppe bedient.

DEFINITION DER STRESSLEVEL

Unabhängig von Messungen über die Technik der Humansensorik, hat Darmstadt fährt Rad auf Grundlage der Studie aus Kalifornien eine „Emotionale Kartierung“ der Radverkehrsanlagen der Stadt Darmstadt erstellt.

Da die amerikanische Definition der Stresslevel aufgrund infrastruktureller Unterschiede nur bedingt anwendbar ist auf deutsche Straßen, wurden die Ergebnisse der Uni San José und der Uni Kaiserslautern zusammengelegt und die Definition somit leicht verändert.

Grundsätzlich sind baulich getrennte und abgelegene Radwege dem Stresslevel LTS1 zuzuordnen, Radfahrstreifen der Kategorie LTS2, Angebotsstreifen („Schutzstreifen“) und Mischverkehr grundsätzlich LTS 4 zuzuordnen. Einige der in Kaiserslautern festgestellten Stress auslösenden Effekte werten die Wegstrecke jeweils um eine oder zwei Kategorien ab. Ausgewählt wurden dabei:

  • Oberflächenqualitäten der Note 5-6
  • regelwidrige Breiten nach ERA 2019[9] (beide s. Teil 1)
  • benachbarte Parkstände: Aufgrund des Konfliktpotentials durch Überfahren von Radfahrstreifen oder Radwegen und durch Dooring[10]
  • Hohe Verkehrsstärken, hoher Anteil Schwerverkehr: Da uns bezgl. der Verkehrsbelastung der Straßen nur ein unvollständiger Datensatz vorliegt, sind die Verkehrsstärken nicht in die Bewertung eingeflossen. Auch die in den USA eingeflossene Anzahl der Fahrspuren findet hier keine Berücksichtigung.

Bei der Abstufung von Radwegen durch den Effekt regelwidrige Breite um nur eine Stufe wurde ein besonders hoher Anteil (85%) von Radwegen festgestellt, die eine regelwidrige Breite haben und trotzdem in Kategorie LTS 2 fallen. Da das Überholen auf zu schmalen baulich getrennten Radwegen gar nicht möglich ist und somit zu besonders viel Stress zwischen unterschiedlich schnell fahrenden Radfahrenden führen kann, wird hier um zwei Stufen abgewertet. Radwege mit wenig Rad- oder Fußverkehr (z.B. Zweirichtungsradwege an nicht angebauten Straßen) wurde hier ausgenommen.

Wie auch in Teil 1 beschränkt sich diese Analyse auf die Streckenelemente an Hauptstraßen mit Geschwindigkeitsbeschränkung von ≥40km/h zwischen den Kreuzungen und Einmündungen. Da die Gestaltung dieser Infrastrukturelemente bzgl. des Stressempfindens von Radfahrenden von entscheidender Bedeutung ist, sollte die Einbindung der Knotenpunkte in eine solche Analyse unbedingt noch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.

Definition Stresslevel LTS
Bewertungsmatrix für die Stresslevel LTS

ERGEBNISSE

Zur Erinnerung: Im ersten Teil des Qualitätschecks Radverkehrsnetz vom Mai 2019 wurden alle Hauptstraßen mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung von ≥ 40km/h auf das Vorhandensein und die Qualität von Radverkehrsanlagen in Bezug auf die Breite und den Zustand des Oberflächenbelags hin untersucht. Im Ergebnis kam die Stadt Darmstadt auf 9,2% regelkonforme, 32,2% regelwidrige Radverkehrsanlagen. An 58,7% aller Hauptstraßen waren gar keine Radverkehrsanlagen vorhanden.

Qualität Radverkehrsanlagen 2019
Qualität Radverkehrsanlagen 2020

Aufgrund der Änderungen und Maßnahmen in 2019 durch die Stadt Darmstadt, haben wir unter Zuhilfenahme der Quartalsberichte der Stadt die Analyse überprüft und die Bewertung angepasst. Einige Strecken mussten schlechter bewertet werden, da z.B. durch die Aufhebung der Benutzungspflicht die Radverkehrsanlage zu einem Gehweg deklariert wurde (s. Rhönring). Andere Radverkehrsanlagen wurden optimiert und daher besser bewertet. Daher vergrößerte sich der Anteil von Hauptstraßen ohne Radverkehrsanlage leicht auf 59,1%. Da z.B. in der Rheinstraße oder in der Heidelberger Straße die Radwege verbreitert wurden, stieg der Anteil der regelkonformen Radverkehrsanlagen aber auch um 0,3 Prozentpunkte auf 9,5%.

Das Ergebnis der Erhebung der subjektiven Sicherheit geht tendenziell in die gleiche Richtung ist aber etwas positiver. LTS1 und LTS2 Kategorien zusammen ergeben knapp 17,6% Radverkehrsanlagen mit einem niedrigen Stresslevel, der ausreicht, um eine große Zielgruppe zu bedienen. Das Ergebnis ist etwas besser im Vergleich zur Analyse-Teil 1 mit der Bewertung nach Regelwerk. Der Unterschied ergibt sich zu einem Großteil aus den langen Streckenabschnitten von Zweirichtungsradwegen außerhalb von bebauten Gegenden. Eine schlechte Bewertung wäre aufgrund der baulichen Trennung und einer geringen Verkehrsbelastung (Rad und Fuß) nicht zu rechtfertigen. Laut Regelwerk sind diese jedoch zu schmal. Eine potentielle Abwertung bestimmter Streckenabschnitte mit hohem Verkehrsaufkommen bzw. hohem Schwerverkehrsanteil würde die Differenz wieder verkleinern.

LTSKarten

Man kann die Four Types of Cyclists aus Portand nicht eins zu eins übertragen auf die Kategorisierung nach Stresslevel aus San José. Nur die drei ersten Typen kommen als Radverkehrs-Zielgruppe infrage (ca. 75%). 25% würden oder können nicht Rad fahren.

Die Studie aus Portland unterteilt die Ansprüche von Radfahrenden in vier Gruppen. Die erste Gruppe beschreibt ungefähr die Radfahrer*innen (Die Gruppen der 1. Interessierten aber Besorgten), die höchstens auf den ersten zwei Stressleveln Rad fahren (San José: LTS1-2). Die 2. Gruppe der Begeisterten und Überzeugten erwartet in etwa mindestens eine Strecke von Stresslevel 3. Die 3. Gruppe hingegen, der Starken und Furchtlosen und die 4. Gruppe, derjenigen, die auf keinen Fall aufs Rad steigen würden, benötigt keine besondere Radverkehrsinfrastruktur. (LTS4)

Karten LTS1-4

12% aller Radfahrenden (inkl. aller potentiell Radfahrenden) benötigen eine Infrastruktur der Stresslevel 3, in Darmstadt gibt es an 14,3% aller Hauptstraßen Radverkehrsanlagen in der Qualität LTS 3, als z.B. schlechte Radfahrstreifen oder Radwege, oder Straßen mit wenig Verkehr.

80% aller Radfahrenden benötigen einen Stresslevel 1-2 Infrastruktur, die aber nur zu einem Anteil von 17,6% an Darmstadts Hauptstraßen existiert. Ein deutliches Missverhältnis.

Four Types Of Cyclists - Nur Radfahrende
Stresslevel Strecken 2020

Zur Visualisierung dieser fehlenden Durchgängigkeit wurden die Ergebnisse in dieser Karte (mit steuerbaren Layern zum Durchklicken) zusammengefasst:

Vollbildanzeige

KURZANLEITUNG MAP

Es sind verschiedene Layer angelegt durch die man sich „durchklicken“ kann. Auf dem Startbildschirm zu sehen sind alle „Hauptstraßen“. Rot eingefärbt alle Straßen über 50km/h. Blau 40 und 50 km/h. Einfach auf Button links unten klicken – es klappt eine Layerliste aus – und mit dem „Auge“ die anderen Layer an- und ausschalten. Ganz unten in der Liste finden sich die Layer mit den Stressleveln. (Funktioniert am besten am PC)

Wirklich stressarme Infrastruktur eines Stresslevels 1, die vor allem durch Kinder genutzt werden könnte, gibt es in Darmstadt nur an 8,2% der Haupstraßen. Das reflektiert ein Radverkehrsnetz, welches sich nicht dazu eignet, dass Kinder mit dem Rad zur Schule fahren. Das Problem „Elterntaxis“ ist vorprogrammiert.

Karte LTS1

Für Darmstadt wäre es erstrebenswert, diese Ergebnisse durch eine eigene Messung mit der Technik der Humansensorik überprüfen zu können.

FAZIT

Natürlich haben solche Kategorisierungen immer einen etwas willkürlichen und vereinfachenden Charakter. Zudem wechseln Menschen je nach Alter und Lebenslage die Stresslevel, die Grenzen zwischen den Kategorien sind fließend. Dennoch macht diese Unterteilung deutlich, dass die Mehrheit von Radfahrenden ein großes Verlangen nach separierten Radwegen hat.

In deutschen Planungsbüros und -ämtern wird diese Kategorisierung extrem vereinfacht durch eine Reduzierung auf die beiden äußeren Stresslevel LTS1 und LTS4 (oft bezeichnet als „geübte“ und „ungeübte“[11] oder „mutige“ und „ängstliche“ Radfahrer*Innen). Auf Grundlage dieser Denkweise wird die Planungsaufgabe gerechtfertigt, Radverkehrsverbindungen sowohl für stressresistente als auch für „ängstliche“ Radfahrer anbieten zu müssen. Das ist zum einen nicht möglich und zum anderen auch nicht notwendig. Denn eine gute Radverkehrsanlage wird von allen Zielgruppen gerne genutzt. Sie muss nur breit genug sein, damit dort überholt werden kann.

Auf Grundlage dieser Denkweise wird die Planungsaufgabe gerechtfertigt, Radverkehrsverbindungen sowohl für stressresistente als auch für „ängstliche“ Radfahrer anbieten zu müssen. Das ist zum einen nicht möglich und zum anderen auch nicht notwendig. Denn eine gute Radverkehrsanlage wird von allen Zielgruppen gerne genutzt.

Dieses „duale Denken“ führt oft auch dazu, dass an Hauptstraßen Radverkehrsanlagen reduzierter Qualität (Mischverkehr oder Markierungslösungen: Radfahrstreifen oder Angebotsstreifen) angeboten werden, die gedacht sind für die Stresslevel LTS 4, während die Zielgruppen von Stresslevel 1 (Kinder, Anfänger) und 2 auf die Nebenstrecken verbannt werden. Das Problem dieser Sichtweise ist, dass auf diesen Nebenstrecken keine gesonderten Radverkehrsmaßnahmen und insbesondere an Knotenpunkten auch keine vorrangigen Querungsstellen angeboten werden. Diese Nebenstrecken, die oft auch durch den Kfz Verkehr als Abkürzungen genommen werden, eignen sich daher nicht für einen leistungsfähigen Radverkehr der Stresslevel 2 und 3. Für diese größte Zielgruppe gibt es dann keine adäquate Infrastruktur.

Die Analyse durch die emotionale Stadtkartierung soll helfen, gemeinsam mit den Ergebnissen aus Teil 1 zu den Breiten und Oberflächen, Lücken im Radverkehrsnetz auszumachen und es somit zu optimieren.

Planer müssen sich vergegenwärtigen, dass jede gebaute Radverkehrsanlage je nach Separationsgrad und Qualität eine unterschiedlich große Zielgruppe bedient. Dies entscheidet am Ende darüber, wie viele Menschen Fahrrad fahren.

Wer will, dass der Radverkehrsanteil wächst, muß sich intensiv mit den Empfindungen und Bedürfnissen von Menschen beschäftigen, und zwar unter Berücksichtigung des Verkehrsmittels, das gewählt wird.


[1] StVZO §63a („Ein Fahrrad ist ein Fahrzeug mit mindestens zwei Rädern, das ausschließlich durch die Muskelkraft auf ihm befindlicher Personen mit Hilfe von Pedalen oder Handkurbeln angetrieben wird.“); StVO §2 („Fahrzeuge müssen die Fahrbahnen benutzen“)

[2] Geller, Roger https://www.portlandoregon.gov/transportation/article/264746 Dill, Jennifer  https://jenniferdill.net/types-of-cyclists/

[3] ADFC So geht Verkehrswende – Infrastrukturelemente für den Radverkehr https://www.adfc.de/fileadmin/user_upload/Expertenbereich/Politik_und_Verwaltung/Download/adfc_radverkehr_infrastruktur_2019_sw_web.pdf

[4] Urban Emotions: EmoCycling – Analysen von Radwegen mittels Humansensorik und Wearable Computing https://blogs.rhrk.uni-kl.de/urban-emotions/wp-content/uploads/sites/15/2015/01/CORP2014_79.pdf

[5] Urban Emotions: EmoCyclingConcept – Potenziale der emotionalen Stadtkartierung https://gispoint.de/fileadmin/user_upload/paper_gis_open/AGIT_2016/537622040.pdf

[6] Heat-Maps: Karten die durch Markierungen Gefahrenstellen aufzeigen, die beim Probanten Stress auslösen.

[7] Graf, Handbuch-Radverkehr in der Kommune, S.57

[8] Maaza C. et. al., Low-Stress Bicycling and Network Connectivity – 2012, Mineta Transportation Institute: https://transweb.sjsu.edu/sites/default/files/1005-low-stress-bicycling-network-connectivity.pdf

[9] ERA 2010, Empfehlungen für Radverkehrsanlagen, FGSV

[10] Dooring – bezeichnet das Unfallrisiko durch aufschlagende Kfz-Türen

[11] Mohnheim – Zur aktuellen Debatte in der Fahrradszene und speziell beim ADFC über die Entwicklung von Radverkehrsanlagen – Artikel auf urbanophil, 02-2017 http://www.urbanophil.net/urbane-mobilitat/zur-aktuellen-debatte-in-der-fahrradszene-und-speziell-beim-adfc-ueber-die-entwicklung-von-radverkehrsanlagen/

1 Kommentar

  1. Die grundlegende Unterscheidung zwischen innerorts und außerorts sollte hier schon vorgenommen werden, nicht nur indirekt nach Kfz-Geschwindigkeitsniveau

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