Darmstadt bastelt auch noch 2018 weiterhin an einer autogerechten Stadt
Neue Tiefbauarbeiten stehen Darmstadt bevor, bei denen Anlagen für den Radverkehr integriert werden. Darmstadt fährt Rad hat die drei aktuellsten Planungen unter die Lupe genommen, um herauszufinden, wieviel dabei für den Radverkehr getan wird.
- Die Arbeiten an der Heidelberger Straße längs der Lincoln-Siedlung sind bereits angelaufen. Der Beschluss dazu ist von Ende 2015. Bei den Baumaßnahmen handelt es sich eher um Instandsetzungsmaßnahmen eines seit jeher desolaten Fuß- und Radweges.[1] [2] (Link zu den Planungen in den Fußnoten [3])
- Länger wird es noch in der Nieder-Ramstädter-Straße zwischen Lichtwiesenweg und Böllenfalltorweg dauern. Dort wird die gesamte Straße neu aufgelegt. [4] [5]
- Als dritte Planung, für die ebenfalls diverse Bürgerbeteiligungen laufen ist die Umgestaltung von Bismarckstraße, Willy-Brandt-Platz, Frankfurter Straße und Mathildenplatz. Das sogenannte Projekt DAVIA, einer Kooperation aus Stadt und HEAG mobilo.[6] Teile sind schon ausgeführt (westl.Strecke der Bismarckstraße, siehe Beitrag von Darmstadt fährt Rad).
Die Stadt Darmstadt nimmt sich selbst gerne als Fahrradstadt wahr. Doch spiegelt sich dieser Anspruch auch in den neuesten Planungen wider oder tut man sich auch weiterhin schwer mit einer Umverteilung von Flächen? Im Folgenden werden die Planungen untersucht gemäß der 7 Goldenen Regeln für eine gute Radinfrastruktur.
Durchgängigkeit
- Keine höhendurchgängige Führung für Radverkehr an Grundstückszufahrten
- Unzureichende Berücksichtigung von Anschlüssen an bestehende Straßenabschnitte.
- Fehlende Zukunftsperspektive.
Für die Nieder-Ramstädter-Straße ist geplant, die Zufahrten zu den Grundstücken zur Straße jeweils abzusenken. Dies sind nicht nur eingebaute Beschleunigungsflächen für den Kfz-Verkehr, es zwingt den Radverkehr auch zu einem mäandrierenden Höhenverlauf, ungeachtet der Tatsache, dass dieser hier bevorrechtigt ist. Diese Streckenführung bedeutet einen gesteigerten Kraftaufwand für Radfahrende.
Die alternative Ausbildung einer Bordsteinrampe bzw. einer Asphaltierung des Bordsteins auf das höhere Niveau, wie es in den Niederlanden oder Dänemark üblich ist (s. Grafik), hat zudem den Vorteil einer Geschwindigkeitsreduzierung der einbiegenden Kfz. Ein Nachteil unter Kfz-Fahrenden wird bei einem solchen Designelement kaum wahrgenommen. (Bild Niederlande)
In der Planung zur Nieder-Ramstädter-Straße werden die Grundstückszufahrten zudem visuell betont durch einen Wechsel der Pflasterung. Die drei Einfahrten zum Stadion werden hier sogar als Fahrbahn behandelt und durchasphaltiert.
Die Gestaltung des Verkehrsraums muss einladen, die Straßenverkehrsordnung zu beachten, die klare Anweisungen gibt, wie man sich beim Ein- und Anfahren verhalten muss. Bei der Planung der Nieder-Ramstädter Straße jedoch missachtet das Design jedoch die Vorfahrtsregelungen (sporadische Nutzung des Querverkehrs vs. Nutzung der Hauptverkehrsrichtung) und macht unfallträchtige Stellen noch risikoreicher. Kantsteine würden helfen, Fahrfehler zu vermeiden, indem sie z.B. Wahrnehmungsereignisse entzerren (Wahrnehmung des vorrausfahrenden Verkehrs, dann Radverkehr, dann Fußverkehr).
Diese Designdetail reflektiert wie durch und durch das Auto noch in unseren Köpfen sitzt. Das Kfz wird hier völlig unnötig betont. Eine schwer begreifliche Praxis für eine Stadt, die die Förderung des Radverkehrs in Majuskeln schreibt. Zudem sind Zufahrtenabsenkungen und Pflasterwechsel weitaus kostenintensiver als einfache Bordsteinrampen.
Breite
- Unzureichende Breite der Radverkehrsanlagen
Bei der Planung für die Heidelberger Straße ist ein 3,50m breiter Weg mit Mischnutzung Rad- und Fußverkehr geplant. Der Weg wird für Radfahrer in beide Richtungen freigegeben, da eine Anbindung der Lincoln-Siedlung auf den vorhandenen Weg auf der Ostseite der Straßenbahn nicht möglich ist. Zudem kommen Fußgänger dazu. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass bergabfahrende Radfahrende (Richtung Süden) in dieser Konstellation eine deutliche Gefahr für die Fußgänger darstellen. Diese Breite liegt auch deutlich unter den empfohlenen Breiten der ERA 3.6 Bild 15 [7].
Bei der Planung wird vom Status Quo der Mengen der Verkehrsteilnehmer ausgegangen. Dass in Zukunft durch die Konversion der Kasernenflächen der Lincoln Siedlung und später auch der Cambray-Fritsch Kaserne viel höhere Verkehrsmengen in diesem Abschnitt anzunehmen sind, wird nicht berücksichtigt.
Visuelle Wahrnehmbarkeit der Radverkehrsanlage
- Keine durchgängige Roteinfärbung
Die Stadt lehnt generell ab, an ampelgesteuerten Kreuzungen Radfurten auch auf Vorfahrtsstraßen, rot zu markieren. Als Begründung nennt sie einen Erlasses des Regierungspräsidiums[8].
Aber selbst an Kreuzungen zu einbiegenden Straßen, die nicht durch Ampeln gesteuert werden, wird auf wahrnehmbare Radverkehrsanlagen 2018 noch verzichtet.
Direktheit
- Hohe Häufung von Störungen
Die Planung der DAVIA zeigt eindeutig die Handschrift der HEAGmobilo als Lobbyist des ÖPNV. Für den motorisierten Individualverkehr ändert sich nichts. Der Radverkehr kommt fatalerweise zu kurz, vor allem erkennbar an dem gänzlichen Fehlen von Radverkehrsanlagen (Willy-Brandt-Platz) oder einer schutzstreifenbasierten inkongruenten Führungsform. Eine Führung auf Schutzstreifen neben dem Gleisbett der Straßenbahnen und motorisiertem Verkehr erfordert eine hohe Konzentrationsleistung beim Radfahren. Zudem wird der Radverkehr streckenweise – z.B. an der Mauer zum Herrngarten – im Mischverkehr mit dem Fußverkehr geführt.
Der größte Fehler, den man bei der Planung von Radverkehrsanlagen machen kann, ist eine Aneinanderreihung einer zu hohen Häufung von Störungen des Fahrflusses auf einer zu kurzen Strecke. Dies führt dazu, dass Radfahren als unangenehm stressig wahrgenommen wird. Als Folge bleibt das Fahrrad in vielen Fällen eher stehen. Genau dieser Fehler aber wird hier begangen.
Als Unterbrechung des Fahrflusses zählen sowohl Hindernisse in Form von Straßenbahnhaltestellen, Nähe zu Straßenbahnschienen und Kfz, Fußgänger und Wechsel der Art der Radinfrastruktur aber auch eine lückenhafte farbige Markierung. Diese Elemente werden an dem kurzen Streckenabschnitt der Frankfurter Straße jedoch wie Perlen aneinandergereiht.
Dies widerspricht den Prinzipien einer einladenden Radfahrinfrastruktur. Eine Steigerung des Radverkehrsanteils und die damit nach sich ziehenden Vorteile für eine lebenswertere Stadt werden damit leider versäumt. Aus dieser Perspektive werden hier massiv Steuergelder verschwendet.
Eine Verkehrswende wird nicht gemacht, indem man vorhandene Flächen noch mehr verdichtet und den Radverkehr irgendwie dazwischen presst. Dieser Fehler wurde in den 80er Jahren schon einmal mit der Anlage der handtuchgroßen Bordsteinradwege begangen. Hier wird er auf der Fahrbahn wiederholt.
Aus städtebaulicher Sicht wird hier eine Chance vertan, zwei großartige Stadteile (Johannesviertel und Martinsviertel) zusammenzubringen.
Es fehlt auch weiterhin an Visionen und Mut, Flächen des MIV zurückzubauen, so dass sich die Menschen wieder in dieser Stadt der kurzen Wege bewegen können. Die Lösung einer Einbahnstraße wurde mit Verweis auf die aktuellen Verkehrsmengen auf der parallelen Kasinostraße zu schnell ad acta gelegt. Nur solche etwas extravagante Lösungen rechtfertigen aber erst einen derart teuren Eingriff in den Stadthaushalt. Weil erst solche die wahrnehmbare Erhöhung der Lebensqualität der Menschen dieser Stadt bringen.
Sichere Kreuzungen
- Keine höhendurchgängige Führung für Radverkehr (RV) an Kreuzungen einmündender Straßen ohne Ampeln (LSA)
- Keine Umgestaltung von vorhanden Knotenpunkten
- Vergrößerung von Abbiegeradien
Kreuzungen von Hauptverkehrsstraßen und einmündender Straßen ohne Ampel wurden in der Vergangenheit oft aufgepflastert angelegt (erhöhtes Kreuzungsplateau). Dieser Empfehlung aus Regelwerken zum Straßenbau (ERA-2010 11.1.7 Bild 86)[9] [10] wurde in Darmstadt zum Beispiel im Bürgerparkviertel (Hundertwasserhaus) nachgegangen oder auch auf der Südseite des Rhönrings.
Ein Vorteil dieses Gestaltungselements ist sein verkehrsberuhigender Effekt. Die Abbiegegeschwindigkeit von Kfz wird nicht nur durch eine leichte Anrampung (s. Grafik) aber auch durch einen Belagswechsel gedrosselt. Damit wird auch eine Reduzierung der Umweltbelastung erreicht.
Andererseits erhöhen Aufpflasterungen aber auch die Erkennbarkeit von Knotenpunkten und signalisieren die Grenze von Durchgangstraßen und Wohnvierteln. Ein Vorteil für den Rad- und Fußverkehr ist ähnlich wie bei den erwähnten Grundstückszufahrten die höhengleiche, energiesparende Führung in Richtung ihrer Bevorrechtigung (Vorfahrtrichtung). Die Herstellung ist aufgrund der reduzierten Unfallkosten kostenneutral.[11] Bei der Planung der Nieder-Ramstädter-Straße, aber auch beim Projekt DAVIA wird ohne Grund an mehreren Kreuzungen versäumt, dieses Element zu verwenden. (s. Ausschnitt Planung)
Zudem wurden die Radien an den Kreuzungen zu einbiegenden Wohnstraßen sogar vergrößert. Ein Vorgehen, welches in der Praxis zu höherer Abbiegegeschwindigkeit und damit zu erhöhtem Unfallpotential führt.
Das Potential der Wohnstraße auf der Westseite der Straßenbahnschienen der Nieder-Ramstädter-Straße wurde in der Umplanung für den Radverkehr leider nicht ausgeschöpft. In Radverkehr-Südrichtung würde die vorhandene Straße mit ihrem verkehrsberuhigten Charakter sehr gut funktionieren, wenn der Anschluss an den nördlichen Teil der Nieder-Ramstädter-Straße (gegenüber Friedhof) als auch die Fortführung an der Straßenbahnschleife am Böllenfalltor mitgeplant würde. Darauf ist verzichtet worden. Und dann hätte man auf die schwache, Flächen fressende Schutzstreifenlösung auf der Fahrbahn verzichten können und Radfahrenden, die nicht auf der Fahrbahn fahren wollen, eine wunderbare Lösung angeboten.
In der Planung zur Nieder-Ramstädter-Straße wurde nachträglich eine Planung der HEAGmobilo zur Lichtwiesenbahn einarbeitet (hellblaue Linien). In diesem Zusammenhang sind für Radfahrende zudem lebensnotwendige vorgezogene Haltelinien entfallen. Diese sind ebenso in der Planung der DAVIA entfallen. (s. Beitrag QUESTION TIME – Sichere Kreuzungen) Ein Skandal, nach den Abbiege-Unfällen im November 2017.
Separation der Verkehrsteilnehmer
- Mischung mit dem Fußverkehr
- Mischung mit dem Kfz-Verkehr
Die Mischung der Verkehrsmittelarten führt zu Konflikten und erhöhtem Unfallrisiko. (siehe Artikel Separation oder Mischung)
Fehler bei der Zugrundelegung der Verkehrsströme
- Als Grundlage der Planungen wird vom Status Quo der Verkehrsmengen ausgegangen. Eine Verschiebung im Modal Split vom motorisiertem Individualverkehr hin zu Radverkehr wird nicht berücksichtigt. Erfahrungen bei der Umgestaltung der Infrastruktur von Städten haben jedoch gezeigt, dass sich Verkehrsströme und -mengen immer an das vorhandene Angebot anpassen.
Fazit
Erst kürzlich wurde wieder einmal eine Studie in Schweden veröffentlicht, die das Auto und Fahrrad in einer Kosten/Nutzen Rechnung für die Volkswirtschaft gegenüberstellt.[12] Aus volkswirtschaftlicher Sicht gehören Projekte wie die hier vorgestellten ins Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler.
Es gibt wie beschrieben eine Menge kleinerer Maßnahmen, die einen großen Vorteil für den Radverkehr bedeuten, jedoch selten nachhaltige Kritik unter den Kfz-Fahrenden erwirkt. Auch diese Chance wird hier verspielt.
Leider zeigen die Projekte dieser Neuanlagen von Straßenabschnitten, dass auf eine Abkehr von der autogerechten Stadt in Darmstadt noch lange nicht zu hoffen ist.
Wer gegen den Luxus des Autofahrens konkurrieren will, muss eine „Luxus-Radverkehrsinfrastruktur“ bauen. Er muss eine Stadt bauen, in der man sicher, bequem, schnell und möglichst ungehindert Radfahren kann. Nur dann lassen die Menschen ihr Auto stehen.
[1] Pressemitteilung der Stadt Darmstadt zur Heidelberger Str. : https://www.darmstadt.de/nachrichten/rss/news/heidelberger-strasse-geh-und-radweg-zur-lincoln-siedlung-wird-ausgebaut/?tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=51b4e4c4258c994756dc6750c1a68805&utm_source=dlvr.it&utm_medium=twitter
[2] Echo-Artikel von 2016:
und von 2018:
[3] Planung zur Heidelberger Str.:
[4] Pressemitteilung der Stadt Darmstadt zur Nieder-Ramstädter-Str. : https://www.darmstadt.de/nachrichten/rss/news/magistrat-beschliesst-umgestaltung-der-nieder-ramstaedter-strasse-zwischen-lichtwiesenweg-und-boellenfal/?tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=c2a7f3fa150b5720d6a7ff1d9d5820e3
Alle Planungsausschnitte: Wissenschaftsstadt Darmstadt 12.04.2017 Durth Roos Consulting GmbH, Darmstadt
[5] Planung zur Nieder-Ramstädter-Str.:
[6] Planung zu DAVIA: https://www.heagmobilo.de/de/davia
[7] ERA-2010 2.2 Tabelle 5, 3.6 Bild 15
[8] 08.03.1991: „Auf keinen Fall darf eine farbige Anlegung der Radfahrstreifen im Bereich der signalgeregelten Knotenpunkte erfolgen. Dort wird die Vorfahrt nach § 37 StVO durch Lichtzeichen geregelt.“
[9] ERA-2010 11.1.7 Bild 86
[10] Merkblatt über bauliche Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung: https://www.forschungsinformationssystem.de/servlet/is/84770/
„Bewährt haben sich Teilaufpflasterungen auch in Einmündungsbereichen von Erschließungsstraßen in Hauptverkehrsstraßen, womit der Beginn der Tempo-30-Zone gut verdeutlicht wird [Stei05].“
[11] Planungsempfehlungen für eine umweltentlastende Verkehrsberuhigung
Minderung von Lärm- und Schadstoffemissionen an Wohn- und Verkehrsstraßen
https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/publikation/long/1933.pdf
„…allein die eingesparten Unfallkosten bereits nach zwei bis vier Jahren die Investitionskosten der Verkehrsberuhigung übersteigen.““ Mit zunehmender Flächenhaftigkeit dieser Maßnahmen, die heute bereits die Wohnquartiere ganzer Städte umfassen, kann so, quasi kostenlos, auch ein flächenhafter Beitrag zur Entlastung der Umwelt geleistet werden.“
[12] https://www.vivavelo.org/fileadmin/inhalte/user_upload/Goessling_CBA_Auto-Fahrrad_0418.pdf Kosten/Nutzen: Eine Auto-km kostet der Volkswirtschaft 0,2€. (4000€/a, über Steuern und Abgaben hinaus). Ein km mit dem Fahrrad erwirtschaftet 0,3€.