Warum wir im Straßenverkehr Zonen brauchen
Teil 2 – Die Mär von der Gleichheit im Straßenverkehr
In Deutschland müssen Radfahrer sich immer noch vielerorts entscheiden, wo sie hingehören. Selten gibt es klar abgetrennte Radwege. Manchmal darf der Radfahrer auf die Straße, manchmal schickt man ihn auf dem Gehweg. Keiner ist sich sicher, wo die Radfahrer fahren. Jede Stadt färbt ihre Radwege in einer anderen Farbe oder Radwege werden gar nicht markiert.
Das schafft Unsicherheit. Auf Seiten der Fußgänger, auf Seiten der Radfahrer und auf Seiten der Autofahrer. Das sorgt für Kollisionen. Buchstäblich und im Sinne von Konflikten. Am Ende schafft es Gelegenheiten zur Begehung von Regelwidrigkeiten. Und damit schürt es den Groll auf die anderen Verkehrsmittelnutzer.
Die von der Stadt Darmstadt am 17.11.2016 online gestellte Pressemitteilung Radfahren [1] behauptet, dass
(…) der gesonderte, baulich vom übrigen Verkehr abgetrennte Radweg“ „nicht immer das richtige und beste Angebot für Radfahrer. (…)“ sei. Viele Radfahrer wünschten sich zudem auf der Straße zu fahren, weil sie „als gleichberechtige Teilnehmer im Verkehr gesehen und wahrgenommen werden wollen.“
Die Stadt beamt sich mit dieser Aussage um mindestens dreißig Jahre Radverkehrsgeschichte zurück. In den 70/80er Jahren wurde die Theorie vom „Fahrbahnradfahren“ besonders im Umfeld von John Forester und John Franklin vertreten. Beide kommen aus Ländern (USA, Großbritannien), die nicht gerade berühmt sind für ihre Radfahrkultur.[2]
Die niederländische und dänische Praxis hat diese Theorien längst widerlegt.
Darmstadt hält daran fest und verwechselt Gleichberechtigung mit Gleichheit. Wer das Fahrbahnfahren und Fahrradschutzstreifen verteidigt, verkennt, dass es zwischen den einzelnen Verkehrsteilnehmern große Unterschiede gibt. Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer. Ihre Geschwindigkeit, ihre Sicht auf andere Verkehrsteilnehmer, ihr Materialeinsatz, ihre Bedürfnisse können nicht unterschiedlicher sein.
Will man den Teilnehmern im Straßenverkehr Gleichberechtigung verschaffen, dann führt kein Weg daran vorbei, jedem Nutzer konsequent eine eigene Fläche zu schaffen. Eine eigene Zone.
Zonen für die Gerechtigkeit
Jede Verkehrsmittelgruppe braucht ihre individuelle Zone, weil sie Teil des Straßenraumes ist und ihr daher eigene Flächen dessen zur Verfügung stehen muss. Vor allem in Bezug auf Fahrradfahrer ist dieser Schritt längst überfällig. Das ist vor allem eine Frage von Respekt und Akzeptanz.
Zonen für die Funktionalität
Eindeutige Zonen müssen geschaffen werden, weil es nicht anders funktioniert.
Zonen können für die Verkehrsteilnehmer der anderen Zonen klar Auskunft geben, wo sie mit einer anderen Art Verkehrsteilnehmer zu rechnen haben, z. B. eine andere Geschwindigkeit gefahren wird. Zonen dienen der Kommunikation, schaffen Sicherheit. Und Respekt. Objektiv wie subjektiv.
Was sind Zonen? Wann funktionieren sie?
Zonen funktionieren nur, wenn sie klar erkennbar sind, eine einheitliche Sprache sprechen und nicht zu Missbrauch verleiten.
Das Miteinander funktioniert nur, wenn ich einigermaßen sicher sein kann, dass Autos auf ihrer Fahrspur fahren, Radfahrer auf ihren Wegen und Fußgänger auf ihren Flächen.
Dafür sind folgenden Anforderungen[3] maßgeblich:
- SICHERE WEGE Eindeutigkeit, gute Sichtbarkeit, ausreichende Breiten, Qualität des Fahrbelags, Vermeidung von Missbrauch
- DIREKTE WEGE kein Zickzack, Umwege minimiert
- DURCHGÄNGIGKEIT keine Unterbrechung der Radwege durch Bushaltestellen, Parkplätze, Fußgängerzonen
- ATTRAKTIVITÄT UND KOMFORT
Leider gibt der deutsche Gesetzgeber kaum Vorgaben für die Gestaltung von Straßenräumen inkl. Radwegen. Jede Kommune muss ihr eigenes Verkehrs-Süppchen kochen. Und oft hat dieses einen bitteren Beigeschmack.
In Darmstadt wurde gerade ein solches Süppchen fertiggekocht. Die Umbaumaßnahme der vom Kraftfahrzeugen eher spärlich befahrene Bismarckstraße ist ein Parade-Beispiel wie der Aufbau einer modernen Infrastruktur für Radfahrer nicht aussehen sollte. Es ist keines der oben genannten Prinzipien eingehalten worden mit Ausnahme des Fahrbahnbelags. Eine Zone für die Radfahrer – also einen durchgängigen Radweg – gibt es nicht. Was für Radfahrer dazugekommen ist, ist eine Mischung aus sogenannten Fahrradschutzstreifen und Hybridbürgersteigen.
Fahrradschutzstreifen sind durch eine gestrichelte Linie abgetrennter Teil der Straße, auf dem Radfahrer fahren – die von Autofahrern jedoch überfahren werden können. Diese Streifen sind weder Fisch noch Fleisch. Sie sind der Inbegriff einer Grauzone zwischen Radfahrer und Autofahrer. Sie sind weder eindeutig, noch breit genug für Radfahrer. Respekt erzeugen sie nicht. Entspannung schaffen sie nicht.[4]
Geparkt werden darf theoretisch auf diesen Streifen nicht. In letzten Abschnitt der Bleichstraße wurde 2013 ein solcher (wenigstens schön breiter) Streifen auf den Belag gepinselt – von der Stadt Darmstadt als Exempel aufgeführt im erwähnten Pressetext. Die neue Situation wird von Autofahrern als Kurzzeitparkoption missbraucht. Fahrradfahrer zwingen Schutzstreifen zu gefährlichen Ausweichmanövern. Die Streifen sind ein gute Lösung in schwach befahrenen Straßen und haben ihre Berechtigung, wenn es nicht anders geht. Sie müssen aber Ausnahme bleiben.
Hybridbürgersteige auf denen visuell abgetrennt jedoch schwellenlos neben den Fußgängern auch Fahrräder fahren dürfen sind in der Praxis nutzlos. Hier sind Kollisionen aufgrund fehlender Eindeutigkeit vorprogrammiert. Das ist keine Maßnahme zur Verbesserung der Kommunikation der unterschiedlichen Verkehrsteilnehmer.
Platz war genug in der Bismarckstraße. Es fehlte an Konsequenz und pfiffigen modernen Lösungen. Schade um das Steuergeld.
Die im Pressetext hervorgehobenen weiteren Einzelmaßnahmen sind Stückwerk, faule Kompromisse und funktionieren nicht. Es fehlt ein Gesamtkonzept.
Fahrbahnfahren wird immer noch von einen Teil der Radfahrer verteidigt. Diese sind jung, alleine unterwegs und vor allem Sportradler. Soll jeder einzelne Bürger aufs Rad (Senioren, Eltern mit Kindern, Alltagsradler), sollten Schutzstreifen als Standard ganz schnell vergessen werden.
Erst dann würde die Wissenschaftsstadt Darmstadt zeigen, dass sie
ihre eigenen Ziele zum Klimaschutz wie die zu einer modernen Form urbaner Mobilität ebenso ernstnimmt, wie die Anliegen der Rad fahrenden Bürger und Bürgerinnen“.
Will sie Gleichberechtigung im Straßenverkehr, muss sie radikal in richtige Radwege investieren.
Und dann steigt auch die Zahl der Radfahrer…
Teil 1 – Ein Blick auf die Niederlande
WEITERLESEN:
[1] https://www.darmstadt.de/presseservice/einzelansicht/news/radverkehr/?tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=b200c60774d09c906bd82de31e57689e
++++UPDATE 20.04.2017: Die Pressemitteilung wurde mittlerweile von der Website entfernt.++++
[2] https://anderebmv.wordpress.com/2016/08/03/zitate-von-den-verfechtern-des-fahrbahnradfahrens-auch-mit-fotos-von-den-niederlanden/
[3] https://ec.europa.eu/energy/intelligent/projects/sites/iee-projects/files/projects/documents/presto_policy_guide_cycling_infrastructure_en.pdf (Seite 8ff)
[4] http://velotransport.info/en/wp-content/uploads/01_PRESTO-Infrastructure-Fact-Sheet-on-Cycle-Lanes.pdf
[…] Was richtig ist: Im TEIL 2 – Die Mär von der Gleichheit im Straßenverkehr […]
[…] Warum eine neue Mobilitätskultur kommt, was Radfahren für uns Menschen bedeutet und was es für die Stadverwaltungen bedeutet, erklärt uns Phillipe Christ in einem Video-Vortrag für das ADFC-Symposium 2016 FAHRRADLAND DEUTSCHLAND JETZT! als Ergänzung zu unserem Artikel UNGLEICHE GLEICHBERECHTIGEN: […]
Liest sich alles gut, nur ist es meist nicht direkt umsetzbar, ich gehöre zu den Radfahreren die lieber die FAHRbahn mit dem Kraftverkehr teilt. Hier nutze ich gerne 30er Zonen, da die Differenzgeschwindigkeit nicht so hoch oder nicht vorhanden ist.
Was in Darmstadt hanebüchen ist, ist das Zusammenlegen von Fussgängern und Radfahrern, zumal mit der steigenden Anzahl von Pedelecs und der auffällig hohen Anzahl von Lastenpedelecs in diesem Mischverkehr die gegenseitige Toleranz noch viel geringer wird.
Auch ist das Gefährgungspotiential der Fussgänger dabei sehr hoch, ein Schritt zur Seite und der Radfahrer kann nicht ausweichen oder Bremsen und wird defacto zum Langsamfahren verdonnert. Das fördert den Radverkehr auch nicht.
Es gilt Geisterradler zu vermeiden, Fahrzeuge in einer Zone zusammenzulegen und dort ausreichend Platz zu schaffen.
Dort wo die Differenzegeschwindigkeit sehr hoch ist(meist also Auserorts) sind extra Radstraßen sicher angebracht, dann aber bitte eine für jede Fahrtrichtung um die gefährliche Kreuzung des Kraftverkehrs zu vermeiden.
Fahrradschutzstreifen richtig genutzt halte ich für gut, Missbrauch als Park- oder Haltezone ist nur durhc Kontrolle und empfindliche Strafe zu reduzieren. Dies gilt aber auch für das beliebte Rad- oder Fussweghalten oder- parken(…schnelle beim…, gleich wieder weg…)
Die Akzeptanz von Radfahrern wird übrigens steigen wenn dies mit Beleuchtung, ordentlichen Bremsen und annehmbaren Fahrverhalten(also beachten von Verkehrsregeln) unterwegs sein werden. Hier gibt es immer wieder die größte Schelte und ich beobachte auch immer wieder unbeleuchtete Geisterradler auf Fahrradschutzstreifen. Gegen solches Verhalten helfen die besten Radwege nichts.
Hallo Matthias. Danke für Deinen Beitrag. Dass die Strategie der Separierung möglich ist – wenn natürlich auch nicht immer umsetzbar – zeigen die Dänen und Holländer seit Jahrzehnten. Man muss es wollen. Mischverkehr in 30er Zonen machen unsere Nachbarländer auch. Ist kein Problem, weil bei den meisten Radfahrern das Streßlevel dort niedrig ist. Das ist jedoch nicht auf >50er Straßen der Fall. Dort ist es eben so, dass Konzepte des Fahrens auf der Straße, oder auf engen Streifen die meisten Menschen von Radfahren abhällt, weil sie sich dort nicht sicher FÜHLEN. Das ist ganz entscheidend, ob der Radverkehrsanteil steigt oder nicht. Nicht nur wie unfallträchtig die Anlagen sind. Für Dich und für mich brauchen wir keine neuen Radverkehrsanlagen. Aber wir brauchen sie für Noch-nicht-Fahrer, für Senioren und für Kinder. Fehlverhalten werden wir immer haben. Im Straßenverkehr sind Menschen unterwegs und die sind eben so, dass sie Fehler machen. Das ist auch der Grundgedanke der Vision Zero. Wenn wir wollen, dass im Straßenverkehr keiner mehr stirbt, dann müssen wir eine Infrastruktur bauen, die Fehler verzeiht. Dann brauchst Du auch keine Kontrolle. Denn die ist bürokratisch aufwändig und teuer. Schöne Grüße